Weinzirl 04 - Gottesfurcht
Taschenlampe.
»Oh, hallo! Ich war
noch bei den Kindern.«
Gerhard kam sich
immer noch vor wie im falschen Film. »Kinder, im Stall?«
Die Fee lachte. »Ich
meinte meine beiden Pferdchen. Ich bin gerade heimgekommen und wollte noch
schnell nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Sind ja noch Fohlen, die beiden
Süßen. Sie sind unser neuer Mieter. Ich bin die Tochter. Ja, und gute Nacht!«
Sie schürzte ihre langen Röcke, was dicke Winterboots zum Vorschein brachte,
und verschwand im Nebel. Eine Mittelalter-Fee mit Pferdekindern, Akkulampe und
Boots.
Allmählich bekam
Gerhard eine Ahnung davon, weswegen diese Familie als etwas strange galt. Als er im Bett lag, wurde die Fee leider von den Gesichtern der zwei
toten Männer vertrieben. Draxl, der Herzinfarkt, der durch Zauberhände von
einem noch unbekannten Platz in diesen hohlen Baum getragen worden war. Und
Georg, Schorsch, Kölbl. Erwürgt und doch liebevoll gebettet. Was passierte
hier? War hier ein Irrer am Werk in diesen Raunächten? Sie hätten den Charakter
einer Erlösung, hatte diese Kassandra gesagt. Erlöst hatte Schnitzermeister
Kölbl aber nicht ausgesehen. Gerhard fröstelte, irgendwas schien mit der
Heizung nicht in Ordnung zu sein. Winter! Die viele Dunkelheit machte
empfindsam, dünnhäutig und ließ einen schneller frieren, innerlich und äußerlich.
*
Fuizbuam
Winter 1949
Als Hansl die Augen
aufschlug, war Raureif auf seiner Decke. Jetzt nicht aufstehen müssen, einfach
nicht aufstehen müssen! Sein Magen knurrte, er fröstelte. Sein kleiner Bruder,
der Hermann, hatte einen Daumen im Mund und gab ein grummelndes Geräusch von
sich, als Hansl vorsichtig aus dem Bett schlüpfte. Hansl tapste barfuß in die
Küche, wo der Herd wohlige Wärme verbreitete. Echte Wärme, eine dicke Wärme,
die einen umfing wie eine Wolldecke. Anders als sonst, wenn nur dünne Zweiglein
im Ofen verglühten. Gestern, als er und die Mutter ihren Schlitten mit Reisig
aus dem Achberger Forst beladen hatten, war die Frau Bernhardine Stöckl
aufgetaucht. Nicht mit dem viel bewunderten Auto, denn es gab in Maxlried ja
nur zwei, sondern mit einem Pferdegespann. »Steigts auf«, hatte sie gesagt, den
Verwalter angewiesen, den kleinen Schlitten aufzuladen und sie nach Hause zu
fahren. Sie hatte Hansls Mutter die Hand gereicht, um ihr auf den Schlitten zu
helfen. »Plagt dich die Kälte, Agi?«, hatte sie gesagt und gelächelt. Die Frau
Bernhardine. Die Gutsherrin! Hansl war der Mund offen stehen geblieben, erst
recht als der Verwalter nicht bloß das Reisig ablud, sondern begann, etwa zwei
Ster Holz vor dem Haus aufzuschichten. Buchenholz, bestes, trockenes
Buchenholz. Die Mutter hatte zu weinen begonnen, war auf die Knie gesunken und
hatte immer nur gestammelt: »Vergelt’s Gott, Vergelt’s Gott.« Die Frau Stöckl
hatte Hansl ein paar bunte Bonbons in die Hand gedrückt: »Pass gut auf die
Mutter und den Hermann auf. Frohe Weihnachten.« Dann hatte das Gespann gewendet
und wurde verschluckt vom Schnee, der unaufhörlich niedersank auf den
Moosboden.
So war das gestern
gewesen, und heute war es warm.
Die Mutter hatte ein
Mus gekocht, Hansl schlüpfte auf die Bank. Er sandte einen bangen Blick zum
Fenster hinaus: Es schneite, dicke Flocken, wie Pflaumen so groß. Das
Millifuhrwerk würde heute nicht durchkommen, es gab keine Chance mitzufahren
bis ins Dorf. Obwohl es noch nicht Weihnachten war, sehnte er sich nach dem
Sommer. Da bogen sie an Schallers Kreuz ins Kirchenwegerl ein, rannten die
Wiese hinunter, die Arme weit ausgebreitet. Und auf dem Heimweg konnte man im
Gras liegen und zum Himmel hochsehen, wo Schwäne zogen und Drachen das Maul
aufrissen, wo alte Männer Schafe hüteten und Elefanten ihren Rüssel schwangen.
Hansls Phantasie beim Wolkenraten war grenzenlos, seine Welt aber voller
Grenzen. Heute würde er zu Fuß gehen müssen, bis zum Bauch im Schnee.
»Heut schaff ich es
nie in die Kirch. Ich muss froh sein, wenn ich’s in die Schul schaff.«
Agi legte ihm ihre
dünne, kalte und raue Hand auf den Unterarm. »Das macht nichts, Hansl. Der
Himmelpapa, der versteht das schon. Der sieht ja, dass es schneit. Und wenn’s
dem Pfarrer nicht passt …« Ihre Worte verklangen. »So, und jetzt zieh dich an
und hol den Schorschi ab. Zieh die gute Hose an, und nimm den Schal und die
Mütze. Und Handschuhe!« Sie drohte ihm scherzhaft mit dem Finger.
So fröhlich hatte er
die Mutter schon lange nicht mehr erlebt. Aber es war warm, und übermorgen war
Weihnachten,
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