Weinzirl 04 - Gottesfurcht
verfügte aber über ein verblüffendes Fachwissen über Wein, und
Gerhard ließ sich einen empfehlen. Statt Weißbier, aber er war eben am
Starnberger See, bei der Magst-an-Prosecco-Fraktion. Die Abzweigung fand er
dann sofort, auch das Haus, und zum wiederholten Male heute spürte er den
Bruch: Einfache, unauffällige Häuser in großen, ungeschminkten Gärten, den See
der Schönen und Reichen so nahe und doch so weit entfernt. Er läutete.
Ein Frau öffnete
ihm, bat ihn herein. Im Gang standen einige Koffer. Sie trug einen
Ski-Unterziehrolli und eine Hose aus Fleece. Ihre Haare waren dunkelbraun und
gewellt und saßen wie ein Helm. Gerhard entschuldigte sich für sein spätes
Kommen, sie entschuldigte sich, dass es aussah wie bei Zigeunern. Sie seien
gerade aus dem Urlaub gekommen. Sie schloss ihren Mann mit ein, der ebenfalls
in den Gang getreten war. Er hatte noch blauere Augen als das Blauauge, die in
einem wettergegerbten Gesicht saßen. Hätte Gerhard nicht sicher gewusst, dass
Luis Trenker tot war, er hätte den Mann für den legendären Bergfexen gehalten.
Das Trenker-Double reichte Gerhard die Hand, ein fester Händedruck. »Albrecht.
Matthias oder besser: Hias Albrecht. Kommen Sie weiter, stolpern Sie nicht. Da
stehen überall Taschen. Wir kommen gerade aus Arosa, wir haben da ein Chalet.
Aber Sie hatten es ja eilig?!« Es war kein Vorwurf, eher eine Frage.
»Schön haben Sie es
hier, ruhig, so wenig …«
»Seeshaupterisch?«
Albrecht lächelte. »Hat man Ihnen auch erzählt, dass wir hier alle
Schönheitschirurgen sind und Yachten besitzen?«
»Nein, aber ich
wurde über Ex-Bauern mit Hotel Garni informiert.« Gerhard lächelte zurück.
»Na, dann wissen Sie
ja schon das Wichtigste. Wir haben hier auch dritte und vierte Bürgermeister.
Aber deshalb sind Sie nicht gekommen?«
Gerhard nickte. »Ja,
ich muss Ihren Schwager sprechen.« In die Richtung von Anna Albrecht sagte er: »Ihren Bruder Karl.«
»Und das duldet
keinen Aufschub?« Wieder keinerlei Unterton in der Stimme von Hias Albrecht.
»Nein! Es eilt
wirklich. Ich habe Anlass zu glauben, dass Karl in ernsthafter Gefahr ist. Sie
waren wie lange weg?«
»Seit dem 14. Dezember«, sagte er. »Gefahr, sagen Sie? Wir haben ehrlich gesagt keinerlei
Kontakt zu Karl.« Es war das erste Mal, dass eine leise Unsicherheit in seiner
Stimme lag. Gerhard beobachtete Anna Albrecht. Sie war ebenso gebräunt wie ihr
Mann. Skibräune, Schneebräune, Winterbräune, anders als die
Palmen-Sonne-Beach-Bräune. Dieses »Sie wurde blass unter ihrer Sonnenbräune«
war der Sprachgebrauch bei Groschenromanen. Sie wurde natürlich nicht blass,
aber in ihren Augen lag Angst.
Gerhard hatte sich
inzwischen gesetzt. Mineralwasser stand vor ihm. Schweizer Wasser, Valser. Evi
hatte das immer getrunken. Anna Albrecht hatte in einer Tasche gekramt und
eilig einige Grissini und Kräcker zu Tage gefördert, Migros-Hausmarke, auch die
kannte Gerhard. Wie oft waren sie früher vom Allgäu in kleinen Hamsterfahrten
in den Rheinpark von St. Margarethen gefahren. Kaffee, Tütensuppen, Hüttenkäse
und jene Kräcker. Belvita, Jo war geradezu süchtig nach dem Zeug. Aber nur in
Sesam. Evi, Jo – Gerhard konzentrierte sich. Noch mal hob er an. »Sie sind seit
dem 14. weg? Sie haben keine Zeitungen gelesen?«
Beide schüttelten
den Kopf, die Helmfrisur wich keinen Millimeter. Das irritierte Gerhard. Er
begann zu erzählen. Von den drei Toten. »Sie alle waren Freunde Ihres Bruders.
Sie waren alle Mitglieder im Viergesang. Verstehen Sie, ich habe Angst, dass
Ihr Bruder der Nächste ist.«
Als er aufsah,
bereute er es, gekommen zu sein. Bereute seinen präzisen emotionslosen Bericht.
Er war ein unsensibler Klotz. Anna Albrecht hatte die Jungen von damals ja wohl
gekannt. Und er erzählte ihr so zwischen Tür und Angel vom Tod dreier alter
Freunde. Sie begann zu husten, ganz entsetzlich zu husten. Hias Albrecht hatte
etwas aus einem Fläschchen geschüttet und ihr zu trinken gegeben.
Gerhard wartete.
Lange, wie ihm schien. Und auf einmal, eruptiv brach es aus ihr heraus: »Ohne
das Mütterheim wäre das alles nicht passiert.«
Gerhard spürte, dass
er nun nichts sagen durfte, nicht drängen. Auch Hias schwieg.
»Es gab von ‘50 an,
glaub ich, bis in die späten Siebziger ein Mütterheim in Huglfing. Junge
evangelische Mütter aus norddeutschen Städten durften sich dort erholen.« Das
war jene Information, die er von Evi erhalten hatte.
Auf einmal brach sie
in Tränen aus.
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