Weinzirl 04 - Gottesfurcht
Sie wurde regelrecht zerrissen vom Weinen. Nur der Helm bewegte
sich nicht. Als sie sich etwas beruhigt hatte, registrierte sie seinen Blick.
»Das ist eine Perücke. 1957 hatte ich eine merkwürdige Hautkrankheit. Wie
Krätze. Die Haare sind mir ausgefallen. Es wurde immer schlimmer, bis ich eine
Perücke tragen musste. Mit fünfundzwanzig!«
Wieder 1957!
Ihr Mann hatte ihre
Hand genommen und küsste sie. Sie entriss ihm die Hand und stürmte aus dem
Raum. Er hinterher. Gerhard hörte, wie zwei Menschen eine Treppe
hinaufpolterten, dann war Stille. Er sah sich um. Das Zimmer war unaufwendig
möbliert, es gab viele große Pflanzen und viele Bilder, die alle in den Bergen
gemacht waren. Anna und Hias Albrecht vor Bergen: Matterhorn, Mont Blanc, auch
der K2. Bilder einer glücklichen Bergfex-Ehe. Was um Himmels willen hatte er
mit der Frage nach diesem Mütterheim angerichtet? Was war so verletzend an der
Frage gewesen, dass er Anna Albrecht derart aus dem Raum getrieben hatte? Er
war sich unsicher, was er tun sollte, und begann im Raum umherzugehen. Hinter
ihm räusperte es sich. Es war Hias Albrecht. »Ich glaube, meine Frau ist gleich
wieder bei Ihnen. So lange lassen Sie mich erzählen. Sozusagen aus zweiter
Hand. Dieses Mütterheim war in den Fünfzigern eine Sensation. Evangelische
junge Frauen mitten im erzkatholischen Oberhausen. Wie ich das aus allen
Erzählungen herausfiltern konnte, war das aber nicht nur ein Erholungsheim, es
war ein Zauberberg in einem Land außerhalb von Raum und Zeit. Dort herrschten
andere Gesetze. Alles war möglich.«
»Und die junge Frau,
die er ermordet hat, das war eine Frau aus dem Mütterheim?«, fragte Gerhard,
obgleich er das ja längst wusste.
Albrecht nickte.
»Und Ihr Schwager
hat sie ermordet?«
»Ich weiß es nicht.
Meine Frau redet nicht darüber, und auch Johann, also Hans Draxl, den ich vom
Alpenverein kenne, hat nicht viel erzählt. Aber er hat über dieses Heim
gesprochen, so, dass ich spürte, dass dort eine Art Ausnahmezustand geherrscht
hat.«
»Junge, hübsche und
willige Frauen und junge Männer voller Leidenschaft?« Gerhard formulierte es
vorsichtig.
»Ja. Leidenschaft
ist ein Gefühl, das Leiden schafft«, sagte eine weibliche Stimme. Anna Albrecht
war hereingekommen und ging langsam zur Terrassentür. Sie schaute hinaus und
begann leise zu sprechen: »Es war dieser Sommer 1956. Ein heißer Sommer. Im
Mütterheim waren wunderschöne Frauen angekommen. Moderne Frauen. Das Dorf stand
Kopf. Den Männern von fünfzehn bis fünfundsiebzig war ein Kamm geschwollen, und
wir Frauen wir waren wütend oder frustriert oder verwirrt.«
»Sehr
unterschiedliche Gefühlslagen?«
»Ja, die Ehefrauen
waren wütend auf die Weibsleute von draußen, die in ihre heilen – nein heile
Welten waren das nicht –, die in ihre fest gefügten, klaren Welten eindrangen.
Wir jungen Mädchen, ich war damals zwanzig, waren frustriert. Wir waren
Bauerntrampel gegen diese Frauen. Kerndlgfuadert! Hitzblaserl waren wir. Rote
Wangen, feste Schenkel, Ärsche wie Brauereirösser. Wir waren gesund und
kräftig. Die anderen waren ätherische Wesen.«
»Und verwirrt?«
»Es gab eine Lesbe
darunter. Heute sage ich das so dahin. Damals war das unglaublich. Eine Frau
mit ganz kurzem Haar hat mich damals angesprochen. Stellen Sie sich das vor.
Eine Frau, kantig wie ein Ziegenhirt, spricht mich an und fährt mit den Fingern
durch meine langen blonden Locken. Und sie hat ein Kind zu Hause. Und trotzdem
… Sie verstehen, was ich meine.« Sie hatte sich umgedreht und lächelte, und
Gerhard war versucht, den Blick als wehmütig zu deuten.
»Das Dorf stand Kopf
in diesem Sommer 1956«, wiederholte sie. »Es war eine Frau dabei von
klassischer Schönheit. Mein Bruder hat sie angebetet. Er hat ihr geschrieben,
als sie abfuhr. Sie ihm auch.«
»Und sie war die
Geliebte Ihres Bruders?«
»Sie soll die
Geliebte meines Bruders gewesen sein. Ich weiß es nicht. Es hieß, dass sie es
in diesem 56er Sommer schon war.«
Wieder dieses »soll«!
»Heute glaube ich
eher, dass sie die Geliebte meines Vaters gewesen ist. Es gab viel Gerede im
Dorf damals. Alles war so verwirrend.«
»Aber sie hat Ihrem
Bruder geschrieben, nicht Ihrem Vater. War sie die Geliebte von beiden? Und was
hat Ihr Vater dann zu den Briefen gesagt?«
»Die Briefe gingen
damals an Hansl, an Johann Draxl. Ich war sozusagen der Postillion d’Amour. Ich
hab sie bei Hansl abgeholt. Ich gab vor, der Agi, das war Hansls
Weitere Kostenlose Bücher