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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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grußlos in den Wagen. Erst als das Auto, ein großer schwarzer Wagen, ein englisches Fabrikat, das Stolzenburg nicht kennt und in dem er die Beine weit ausstrecken kann, das Musikerviertel verlässt, wendet er den Kopf, aber von Hollert und dem Haus ist nichts mehr zu sehen. Er bittet den Fahrer, einen kleinen Umweg zu machen, er müsse noch in der Fregestrasse etwas abgeben und erklärt ihm den Weg. An der Grünanlage vor dem Zentralstadion lässt er anhalten und steigt aus. Das prächtige, gut restaurierte Haus wirkt in der kaum beleuchteten Straße dunkel und bedrohlich, in der Musikalienhandlung im Erdgeschoss glimmen ein paar Lampen, Henriettes Wohnung ist hell erleuchtet, aus vier Fenstern fällt Licht auf die gegenüberstehenden Bäume. Er geht zur Haustür, liest ihren Namen auf der Klingelleiste, dreht sich um und geht zurück. Der Fahrer wartet bereits an der hinteren Tür und hält sie für ihn geöffnet. Als sie weiterfahren, bedankt sich Stolzenburg und erkundigt sich, ob er mit dem Wagen zufrieden sei, ob er ihn empfehlen könne, was er privat fahre. Der Fahrer antwortet so einsilbig undzurückhaltend, dass Stolzenburg das Gefühl hat, er habe mit seinen Fragen die Grenze des guten Geschmacks weit überschritten oder Obszönes verlangt.
    Vor seiner Haustür angekommen, bedankt er sich. Er öffnet die Wagentür und tritt beim Aussteigen mit dem rechten Fuß auf etwas Weiches. Er lässt sich in den Sitz zurückfallen, beugt sich vor und starrt auf den von trüben Straßenlaternen beleuchteten Bürgersteig. Direkt neben dem Auto liegt der kleine Kunststoffpropeller, der in seinem Blumenkasten steckte, er ist schmutzig und zerrissen, der Holzstab fehlt. Vielleicht hat der Wind nur das Rad abgerissen und der Stab steckt noch zwischen den vertrockneten Resten seiner Balkonbepflanzung.
    Er steigt aus und geht in die Wohnung. Er gießt sich ein Glas Wein ein, sucht im Fernseher nach einer Nachrichtensendung, schaut für Minuten einem Wrestlingkampf zu, bevor er den Apparat ausschaltet und in den Sessel zurücksinkt.
    »Akku und Batterie«, sagt er halblaut. Er denkt an Henriette und entschließt sich, sie am nächsten Vormittag anzurufen. Er will eine Entscheidung, zu irgendeinem Entschluss sollte sie sich durchringen können, so oder so, er will wissen, muss wissen, woran er mit ihr ist, er könnte sich für sie sofort entscheiden, nein, er hat sich entschieden, und das sollte sie auch. Morgen Vormittag wird er sie anrufen, er wird sie in ihrem Büro anrufen, auch wenn ihr das nicht recht ist. Dann denkt er an den Abend mit den beiden alten Hollerts, dem Gastgeber von Stolzenberg, dieser ganzen Sippe, die alle mit Akkus und Batterien zu tun haben, sie herstellen oder mit ihnen handeln, an diese netten, an diese entzückenden jungen Leute von irgendwelchen Privatschulen und Eliteuniversitäten, die sich alle in ihren fabelhaften Erfolgen zu übertreffen suchen und mit jedem neuen Triumph das lautstarke Entzücken ihrer Eltern und Verwandten hervorrufen. Und keiner, nicht einer von ihnen hat von ihm etwas hören wollen, er hätte dort auch als Kellner auftreten können, oder als Butler. Er denkt an den Onkel von Hollert, den Zwillingsbruder, diesen verschrobenen Besitzer einer vermutlich umfangreichen Autographensammlung, der fünftgrößten von Europa. Und es gibt das Angebot, ihn die Briefe und Manuskripte sichten zu lassen und ihm Kopien der Weiskern-Briefe möglicherweise zur Verfügung zu stellen. Der Abend könnte sich gelohnt haben, wenn er mit der Hilfe dieses alten Hollert und jenem Sperber tatsächlich an die unveröffentlichten Papiere gelangen würde, die nach der Auskunft von diesem Archivar Sperber keinesfalls nur private Bedeutung besitzen. Akku und Batterie, die Worte der schönen jungen Frau, der Gastgeberin des heutigen Abends, fallen ihm wieder ein. Dann wird ihm plötzlich heiß, verwirrt und unruhig richtet er sich auf, ein beklemmender Gedanke schießt ihm durch den Kopf. Er greift nach dem Glas, trinkt einen Schluck und geht in die Küche, um nachzuschenken. Der junge Hollert, dieser kleine Widerling, der es fertiggebracht hat, in seine Sprechstunde zu kommen, um ihn, vollkommen unumwunden und mit größter Chuzpe, bestechen zu wollen, ausgerechnet dieser Kerl soll ihn zu Sperber und an die Weiskern-Manuskripte führen. Der alte Hollert hat seine Visitenkarte bereits in der Hand gehabt, um sie ihm zu geben, es fehlte eine winzige Bewegung, es fehlte eine Sekunde, eine einzige Sekunde,

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