Weiskerns Nachlass
dann besäße erdie Karte und könnte sich mit ihrer Hilfe einen Weg zu dem alten Hollert oder seinem ihm ergebenen Archivar bahnen. Doch dann hat der Alte auf seinen Neffen verwiesen, nun ist der junge Hollert der Hüter des Zugangs zum Sammlungsschatz geworden, wenn er Sperber sprechen will, wenn er die zum Greifen nahen Manuskripte einsehen und publizieren will, muss er diesen Sebastian Hollert ansprechen, muss ihn bitten, ihm den Weg zu Sperber und dem Archiv zu öffnen.
Stolzenburg beginnt zu schwitzen. Krampfhaft sucht er nach einem Ausweg, einer Möglichkeit, ohne diesen unangenehmen Hollert an Sperber und die Sammlung heranzukommen, aber jede Überlegung führt immer erneut zu diesem Kerl. Sebastian Hollert ist das Bindeglied, die einzig tragfähige Brücke zu den offerierten Manuskripten, und er kann und will ihn nicht ansprechen. Er darf es nicht. Hollert hat ihn bestechen wollen, will ihn mit einer Menge Geld dazu bringen, ihm ein ansehnliches Diplom zu verschaffen, das dem Onkel ausreichend erscheint und ihm folglich ein gewaltiges Erbe sichert, und obwohl er dieses Ansinnen abgelehnt hat, was er ihm seiner Meinung nach deutlich genug zu verstehen gegeben hat, obwohl er bei dieser Abendgesellschaft erschienen ist und mit dem ominösen Onkel gesprochen hat, hat er Sebastian Hollert überdeutlich gesagt, was er von einem Bestechungsversuch hält, doch sobald er ihn wegen der Sammlung anspricht, wird Hollert ihm zwar umgehend helfen, aber auf eine Gegenleistung pochen. Nein, er will mit ihm nichts zu tun haben, er darf es nicht. Und eigentlich sollte er die versuchte Bestechung öffentlich machen, er sollte zu Schlösser gehen, der sollte diesen Hollert hinzuladen, und dann würde man sehen, ob ein solcher Student an ihrem Institut bleiben darf. Und wie immer die Sache ausgehen würde, er, das ist ganz sicher, müsste diesen Sebastian Hollert nicht weiter unterrichten, an seinen Seminaren dürfte oder sollte er nicht mehr teilnehmen. Und diese Erbschaft, die wäre dann für Sebastian Hollert und seinen Vater in weiteste Ferne entschwunden, Akku und Batterie müssten sehen, wie sie ohne die Autographensammlung und den spleenigen Onkel zurechtkommen. Er trinkt seinen Wein aus, es ist das dritte oder vierte Glas, er hat nicht darauf geachtet, und geht ins Bett, zufrieden mit sich und seinen Entschlüssen.
Am nächsten Vormittag ruft er Henriette nicht an. Er ruft sie auch nicht am Abend nach der Arbeitszeit an, er hat sich entschlossen, auf ihren Anruf zu warten, so wie sie es erbeten und verlangt hat. Auch der nächste und übernächste Tag vergehen, ohne dass er zum Telefon greift. Er weiß nicht, woran er mit ihr ist, wie sie sich entscheiden will oder entschieden hat, und er vermeidet es, Marion im Institut zu treffen. Wenn sie sich sehen, grüßt er freundlich, eilt aber rasch weiter, auch von ihr will er nichts hören. Henriette muss sich entscheiden, alles liegt an ihr.
Hollert sieht er in einem seiner Seminare oder, besser, er übersieht ihn. Als er sich zu Wort meldet, hört er ihm kaum zu und ohne ihn dabei anzusehen, dann ruft er kommentarlos den nächsten Studenten auf.
Zwanzig
Im Sekretariat sieht er, dass sich Lilly Riesebach für seine Sprechstunde am nächsten Nachmittag angemeldet hat, das rotblonde Mädchen, das sich für die Geschichte eines Theaters in Essen interessiert oder auch nur für einen Dramaturgen dieses Theaters. In den ersten Semestern saß Lilly in seinen Seminaren, aber seit einem halben Jahr hat er sie nicht mehr unterrichtet, ihre Bitte um eine Abschlussbetreuung hat ihn überrascht, andererseits weiß er, dass er der Einzige im Institut ist, der während der letzten Jahre Vorträge und Seminare zu Dramatik und Theater gegeben hat.
Am nächsten Vormittag muss er um elf zur Sektionssitzung. Als er die Wohnung verlässt und an der Haustür den Briefkasten öffnet, findet er einen Brief. Die Post kommt üblicherweise nie vor dreizehn Uhr, und er hat den Kasten eher beiläufig geöffnet und nicht erwartet, Post zu finden. Es ist ein Brief vom Finanzamt, den er umgehend aufreißt, um in den zwei Seiten eines vorgedruckten Schreibens die drei entscheidenden Zeilen zu finden. Sein Ratenplan ist akzeptiert, die Zahlungen haben bis zum Fünfzehnten eines jeden Monats zu erfolgen, und das erste Geld muss er im Dezember, also in acht Tagen, überweisen. Mit diesen ersten zweihundert Euro würde er sein Konto überziehen, falls nicht in den nächsten Tagen eines der ausstehenden
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