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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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drei stoßen stehend in der Küche an. Dann bittet Marion ihn, im Wohnzimmer Musik auszusuchen.
    »Es ist besser, du verschwindest aus der Küche, wir haben zu tun, und du störst hier«, sagt sie und schiebt ihn in Richtung Flur. Hinter ihm verschließt sie die Küchentür, sie kichern, er hört ihre Stimmen, aber er versteht sie nicht. Im Wohnzimmer schaut er die CD -Sammlung an, sein Blick fällt auf die Schnapsflaschen in der offenen Vitrine. Als Marion hereinkommt, hinter sich die Tür schließt und ihn fragt, wie ihm Jette gefalle, nickt er.
    »Genehmige dir einen Cognac«, sagt sie, nimmt ein Glas vom Bord, reicht es ihm und verschwindet wieder. Er gießt sich ein Glas ein und trinkt es mit einem Schluck leer, dann sucht er nach einer geeigneten Musik, unschlüssig entscheidet er sich für Händel.
    Marion erzählt während des Essens beiden in ihrer Anwesenheit etwas von dem anderen, wie sie Henriette und Rüdiger kennenlernte, warum sie sie mag. Sie schafft es auch, dass die beiden sich duzen. Ihr sei es zuanstrengend, mit ihnen zu sprechen, wenn sie sich so förmlich anredeten, sie sei das nicht gewöhnt.
    Aus Verlegenheit redet er viel zu viel, wie er sich später sagt, aber ihm gefällt, dass Marion und Henriette ihm zuhören und sich nicht zu langweilen scheinen. Er erzählt Geschichten aus seiner Kindheit, macht Witze über Frieder Schlösser und das Institut, gibt Weisheiten von Konfuzius zum Besten, worüber auch Henriette lachen kann, und er berichtet sogar, was er sonst ungern macht und nur, wenn es nicht vermeidbar ist, von Friedrich Wilhelm Weiskern, den er als seine heimliche Leidenschaft bezeichnet. Und unaufhörlich sieht er an diesem Abend Henriette an und bemüht sich, sie nicht anzustarren. Als Marion einen Blick auf ihre Armbanduhr wirft, steht er unvermittelt auf und sagt, es sei spät geworden, er habe nicht auf die Zeit geachtet, er müsse gehen, schließlich wollten die Studenten auch morgen etwas von ihm lernen. Marion bittet ihn, Henriette nach Hause zu begleiten, sie wohne in der Fregestraße, also nicht weit von ihr.
    »Das ist hoffentlich keine zu große Mühe für dich, Rüdiger«, sagt sie und grinst ihn an.
    Auf der Straße ist er wieder verlegen und schweigt. Mit Henriette allein ist ihm die Kehle wie zugeschnürt und ihm fällt nichts ein, womit er sie beeindrucken könnte. Sie weist auf den prächtigen Sternenhimmel, er stimmt unbeholfen zu, weiß aber nichts weiter zu sagen. An ihrer Haustür verabschieden sie sich, sie ist freundlich und lässt sich auf beide Wangen küssen. Er steht in der offenen Haustür und schaut ihr nach, wie sie die Treppe nach oben steigt. Wenn sie sich noch einmal umdreht, habe ich Chancen, denkt er, doch sie läuft eilig die Treppe hoch und verschwindet auf dem Treppenabsatz aus seinem Blickfeld. Das will nichts bedeuten, sagt er sich und schaut enttäuscht auf die leeren Stufen, als sie sich plötzlich über das Geländer beugt und ihm zuwinkt. Er reißt seinen Arm hoch, um sie zu grüßen, doch ihr Kopf ist bereits wieder verschwunden, und er hört nur noch ihre Absätze klappern. Er wartet, bis es still wird und er das Klingeln ihres Schlüsselbunds hört. Sie wohnt im zweiten Stock, registriert er, bevor er auf die Straße tritt und vom Bürgersteig nach oben blickt, um zu sehen, hinter welchem Fenster das Licht angeht.
    Am nächsten Vormittag arbeitet er zu Hause, er braucht erst um drei im Institut zu sein und will eine Buchrezension für die Volkszeitung verfassen, die am Donnerstag in der Redaktion vorliegen muss. Er schreibt schnell, das zu besprechende Buch hat er bereits vor zwei Wochen gelesen und blättert es jetzt noch einmal durch, um die Anmerkungen zu suchen, die er sich bei der Lektüre gemacht hat. Nach zwei Stunden ist er fertig, der Artikel ist hundert Zeichen zu lang, aber das Kürzen überlässt er der Redakteurin, und über einen Titel will er auch nicht nachdenken. Selbst die originellsten Überschriften, die ihm für seine Zeitungsartikel eingefallen waren, wurden von der Redakteurin regelmäßig abgelehnt und durch andere ersetzt. Vermutlich war das Kürzen und das Formulieren eines möglichst dummen und irreführenden Titels die einzige Arbeit dieser Frau, und er hat keine Lust, sich zu ärgern, und mit ihr zu streiten schon gar nicht, denn sie vergibt die Aufträge. So setzt er den Titel des rezensierten Buches über seinen Text, liest ihn noch einmal durch und schickt ihn an ihre Adresse.
    »Jette-Henriette«, sagte

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