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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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er laut, als der Computer ihm mitteilt, dass die E-Mail versendet wurde.
    Er stellt sich ans Fenster und versucht, sie sich möglichst genau in Erinnerung zu rufen, aber er ist beunruhigt und fragt sich fortwährend, welchen Eindruck er auf sie gemacht hat. Leider sieht er heute Marion nicht. Wenn er im Institut auftaucht, hat sie längst Feierabend, doch anrufen will er sie nicht, sie würde sich über ihn lustig machen. Er will zwei, drei Tage warten und dann erst Henriette anrufen und sie einladen, Kino geht nicht, aber vielleicht Theater oder Konzert. Der kleine bunte Propeller in seinem Blumenkasten dreht sich so heftig, dass er ihn durch die geschlossene Fensterscheibe zu hören meint. Er greift nach dem Wochenplan und schaut sich das Programm der nächsten Tage im Theater und der Oper an. Er entdeckt ein ungewöhnliches Jazzkonzert, aber er weiß nicht, ob Henriette derartiges gefällt. Vielleicht ist es besser, sie zu einem Essen einzuladen. Falls sie ihn näher kennenlernen will, hat Marion sie vermutlich längst über seine berufliche Situation und seine Finanzen informiert und weiß, dass er kein Krösus ist, er kann also durchaus mit ihr in ein bezahlbares Restaurant gehen, er muss ihr nichts vorspielen.
    Sie gefällt ihm. Ihm gefällt die Art, wie sie lacht, wie sie ihm zuhört, wie sie sich bewegt. Sie weiß mit ihren Beinen etwas anzufangen, sie ist nicht durch das Zimmer getapst, sie ist geschritten. Und sie hat einen schönen Hintern, das hat er gesehen, einen schönen kleinen Hintern, doch das Schönste an ihr sind die Augen, dunkle, warme, kluge Augen, in ihre Augen hat er sich verliebt. Vermutlich ist sie fünf bis zehn Jahre jünger, vielleicht im Alter von Marion, und die ist, wie er weiß,acht Jahre jünger als er. Sie arbeitet im Rathaus, ist für die Öffentlichkeitsarbeit des Kulturbürgermeisters zuständig, hat demnach viel mit den Leuten von der Presse zu tun, darüber aber kaum etwas erzählt. Sie hat an dem gestrigen Abend bei Marion überhaupt wenig gesagt, fällt ihm ein, was möglicherweise an ihm lag, weil er so viel redete.
    Als das Telefon klingelt, ist er sicher, dass Henriette anruft. Und zwar so sicher, dass er plötzlich in der Laune ist, den Hörer abzunehmen und, statt seinen Namen zu nennen, sie mit ihrem Namen anzusprechen. Er greift nach dem Hörer.
    »Hallo, Henriette, fein, dass du anrufst.«
    »Krebs«, sagt eine männliche Stimme. »Krebs, Dorotheum. Wir haben vor einigen Tagen miteinander telefoniert, Herr Stolzenburg.«
    »Ach so. Ja. Ja, natürlich«, stottert er.
    »Sie haben etwas Aufregung in unser Haus gebracht, Herr Stolzenburg. Genauer gesagt, dieser Conrad Aberte, der Ihnen ein Weiskern-Manuskript angeboten hat mit einem angeblichen Gutachten unseres Hauses. Haben Sie die Adresse von diesem Herrn Aberte?«
    »Nein, habe ich nicht. Ich wollte zu ihm fahren, um mir die Manuskripte anzusehen, aber das wollte er nicht. Ich weiß nicht einmal, in welcher Stadt er wohnt und in welchem Land. Oder warten Sie, ich glaube, er hat einmal München erwähnt, aber ich bin mir nicht sicher. Er hat die Manuskripte ja Ihnen vorgelegt, Ihrem Auktionshaus, und will sie vor der Versteigerung keinem anderen zeigen. Angeblich darf er es nicht, das musste er Ihnen oder dem Dorotheum garantieren.«
    »Sie wissen nicht, wo er wohnt?«
    »Nein. Wie gesagt, ich habe lediglich seine E-Mail-Adresse.«
    »Und haben Sie noch andere E-Mails von ihm erhalten?«
    »Wir hatten zwei-, dreimal miteinander Kontakt, immer nur per E-Mail. Ich wollte unbedingt die Briefe sehen, denn ich halte sie nach wie vor für eine kleine Sensation, Herr Magister.«
    »Könnten Sie mir alle E-Mails von Herrn Aberte schicken?«
    »Kein Problem, mache ich. Ich verstehe nur nicht, was Sie …«
    »Ausnahmslos alle E-Mails, Herr Stolzenburg, wenn ich Sie bitten darf.«
    »Ja, aber warum …«
    »Um es kurz zu machen: Die Wiener Kriminalpolizei benötigt sie. Die wird sich selbst an Sie wenden.«
    »Aber wieso? Was ist denn passiert, Herr Magister?«
    »Das Gutachten ist eine Fälschung. Wir hier im Haus und auch die Polizei gehen davon aus, dass Sie, Herr Stolzenburg, nicht in diesen Betrug involviert sind, vielmehr das Opfer einer betrügerischen Manipulation sein sollten. Ich weiß nicht, was Sie unternehmen werden, aber unser Haus nimmt die Fälschung sehr ernst. Das ist ein grober, ein ungeheuerlicher Vorgang, den wir mit allen Mitteln aufklären wollen. Und wir werden den oder die Täter strafrechtlich

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