Weiskerns Nachlass
haben Sie nicht. Sie haben keine Freundin.«
»Was soll das heißen? Haben Sie mich verfolgt? Beobachtet? Spionieren Sie mir nach? Das ist sehr unfein, das sollte eine guterzogene junge Dame unterlassen. Und im Übrigen haben Sie unrecht, ich habe eine Freundin.«
»Haben Sie nicht. Die einzige Freundin, der einzige Mensch, der Sie liebt, das bin ich.«
Stolzenburg lacht auf. »Nun ist gut, Annika, wir beenden das Gespräch jetzt, und ich schlage vor, wir vergessen es einfach. Stalking ist ein Straftatbestand, wenn ich Sie anzeige, kann es passieren, dass Sie exmatrikuliert werden. Auf jeden Fall würden Sie dann nicht mehr bei uns studieren, denn das Gericht würde unser Institutfür Sie zur Tabuzone erklären. Verstehen Sie, Sie dürften das Haus nicht betreten, sich ihm nicht einmal nähern. Darum sollten Sie sich das noch einmal überlegen. Ich will Ihnen keinen Ärger machen, und darum bitte ich Sie, machen Sie mir keinen Ärger. Und suchen Sie sich einen jungen Mann zum Verlieben. Ich bin zu alt und überdies vergeben.«
Er steht auf, greift nach seiner Jacke und geht zur Tür, er macht sie weit auf und bittet das Mädchen mit einer Handbewegung, den Raum zu verlassen.
»Ich liebe Sie, Herr Doktor Stolzenburg«, wiederholt sie, ohne sich zu rühren. Stolzenburg bleibt einige Sekunden in der offenen Tür stehen, dann ruft er überlaut nach Sylvia, gibt ihr den Bibliotheksschlüssel und bittet sie, den Raum abzuschließen, sobald Annika Wöble gegangen ist. Die Sekretärin schaut ihn irritiert an, und er flüstert ihr ins Ohr, sie soll das Mädchen rausschmeißen und abschließen, er erkläre ihr alles später, dann stürmt er den Gang entlang zum Ausgang, er will sich nicht weiter von der Studentin belästigen lassen.
Zu Hause erwartet ihn eine Nachricht von einem Kommissar Hittich, der um einen Rückruf bittet. Er wählt die genannte Nummer, Hittich ist sofort am Apparat, er stellt sich ihm als Hauptkommissar der Kriminalpolizei vor und erklärt ihm, er sei im Rahmen eines Amtshilfeersuchens von den Wiener Kollegen unterrichtet worden und habe die Unterlagen zu der Anzeige des Auktionshauses Dorotheum gegen Aberte auf seinem Tisch. Er bittet Stolzenburg, im Kommissariat vorbeizukommen, zeitnah, wie er sich ausdrückt, der Fall habe Priorität.
»Alles, was ich weiß, habe ich dem Auktionshaus mitgeteilt. Sie wissen, dass dieser Aberte mich am Vierzehnten treffen will. Sobald er sich bei mir meldet, gebe ich Ihnen Bescheid, dann können Sie ihn schnappen. Ich habe mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun, und ich will nichts mit ihr zu tun haben.«
»Ich weiß, Herr Stolzenburg, aber wir brauchen Ihre Hilfe. Wir sollten uns absprechen.«
»Ich habe keine Zeit. Tut mir leid, aber ich habe noch einen Beruf.«
»Dann komme ich zu Ihnen. Passt es Ihnen in einer Stunde?«
Stolzenburg zögert, dann willigt er ein, um diese ärgerliche und lächerliche Geschichte hinter sich zu bringen.
Hittich ist ein blasser, unscheinbarer, kleiner Mann von Ende dreißig, mit Halbglatze und dichtem Schnurrbart. Er erscheint mit einem Aktenkoffer und stellt sich nochmals vor, sagt, seine Amtsbezeichnung laute: Polizeihauptkommissar – das ist eine Dienstbezeichnung, sagt er, kein Dienstgrad, wie man es in den Fernsehkrimis leider immer wieder und fälschlicherweise nennt –, er befasse sich mit Wirtschaftsdelikten, mit Betrug und Computerkriminalität, weshalb ihm der Fall des beschuldigten Aberte übergeben wurde. Nicht auszuschließen sei auch ein Bandendelikt, wenn sich dieser Verdacht erhärten sollte, werde er noch einen Kollegen hinzuziehen, der sich speziell mit der organisierten Kriminalität beschäftige. Die Tatsache, dass Aberte möglicherweise zu einem Kunstfälscherring gehöre, der international agiere, sei übrigens der Grund, warum das Amtshilfeersuchen der österreichischen Kollegen so unbürokratisch, und das hieß, so schnell ein Ergebnisgezeigt habe. Die Polizei halb Europas fürchte sich vor hoch professionellen und perfekt organisierten Fälscherbanden, weshalb die Polizei in solchen Fällen in ständiger Alarmbereitschaft sei. Nach dieser Eröffnung nickt er bedeutsam und bittet darum, sich setzen zu dürfen, sie müssten das weitere Vorgehen koordinieren.
Stolzenburg öffnet die Tür zum Wohnzimmer und lässt ihn herein. Er bietet ihm nichts an und beantwortet die Fragen mürrisch und knapp. Er bestätigt dem Polizisten, dass der Kontakt mit Aberte ausschließlich über E-Mails erfolgte und
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