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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Nacken sitzt. Gaede fällt ihm ein, Marions Cousin, er muss Klemens Gaede anrufen, um zu hören, ob er etwas erreicht hat, ob die Forderung vom Tisch ist. Und er muss diesen Aberte loswerden, er will sich nicht mit ihm treffen, nicht den Lockvogel für das Auktionshaus oder die Polizei spielen, andererseits aber möchte er Klarheit, will er wissen, ob es diese Manuskripte vielleicht doch gibt,denn noch immer hofft er, es existierten Briefe von seinem Weiskern, die über zweihundertfünfzig Jahre unentdeckt auf irgendeinem Dachboden lagerten und ihm möglicherweise ganz unerwartete Einsichten und neue Fakten liefern könnten. Freilich, er weiß, seine Hoffnungen sind unsinnig, in Wahrheit sollte und soll er von einem geschickten und kundigen Betrüger über den Tisch gezogen werden.
    »Ich liebe Sie, Herr Doktor Stolzenburg.«
    Eine leise Stimme ist es, eine sehr leise und piepsige Stimme, die ihn aufschreckt, die in sein Grübeln platzt und ihn zusammenfahren lässt. Er öffnet die Augen, die Studentin sitzt nach wie vor auf ihrem Stuhl, den Kopf gesenkt und mit ihren Fingern beschäftigt. Für einen Moment ist er unsicher, ob diese Worte tatsächlich gesagt wurden oder ob ihn dieser Aberte derart verwirrt, dass er anfängt, Stimmen zu hören.
    »Wie bitte?«, fragt er langsam und an sich selbst zweifelnd.
    Das Mädchen rührt sich nicht, schaut nicht auf, bewegt nur ihre Finger. Er geht zur Tür, öffnet sie einen Spalt und setzt sich wieder. Dann sieht er das Mädchen an.
    »Ich glaube, ich habe Sie nicht richtig verstanden«, sagt er. »Was meinten Sie?«
    Er spricht leise, er bezweifelt, dass dieses kleine verängstigte Mädchen tatsächlich zu ihm gesagt hat, was er glaubt vernommen zu haben.
    »Ich liebe Sie, Herr Doktor Stolzenburg«, wiederholt sie, ohne aufzusehen.
    Er ist für einen Moment erleichtert. Er ist beruhigt, weil er sich nicht verhört hat, weil sich keine mysteriösen Stimmen in seinem Kopf melden, und er atmet auf. Im nächsten Augenblick begreift er, was das Mädchen gesagt hat. Er schaut automatisch zur Tür und vergewissert sich, dass sie offen steht. Dann betrachtet er sie und wartet, dass sie den Kopf hebt, er will ihre Augen sehen, doch sie bewegt sich nicht. Er räuspert sich: »Frau Wöble.«
    Für einen Moment hebt sie das puterrote Gesicht, blickt wieder auf ihre Hände, dann sieht sie ihm in die Augen.
    »Nein, Sie lieben mich nicht. Sie sind vielleicht verliebt, haben sich verknallt oder verguckt, stehen auf irgendjemanden, wie auch immer Ihre Generation das heute nennt. Vielleicht hat Ihr Dozent Sie beeindruckt, Sie bewundern ihn und glauben nur, dass Sie ihn lieben. Aber in Wahrheit tun Sie das nicht. Ich könnte Ihr Vater sein, Frau Wöble, möglicherweise bin ich sogar älter als Ihr Vater. Nein, nein, in seine Lehrer verliebt man sich nicht, das sind Dummheiten, die man als Zwölfjährige macht, aber Sie sind eine erwachsene Frau.«
    Er schweigt und wartet auf ihre Antwort.
    »Kann ich die Tür zumachen?«, fragt sie.
    »Nein. Die Tür hat bei Einzelgesprächen mit Studenten offen zu bleiben. Anderenfalls müsste ich die Sekretärin oder einen Kollegen hinzubitten. Wenn Ihnen das lieber ist, bitte. – Soll ich Frau Pohl rufen?«
    Das Mädchen schüttelt den Kopf. Er wartet. Die Situation ist ihm vertraut. Vor zehn, zwanzig Jahren verliebte sich regelmäßig eine Studentin in ihn, und er hatte sie zurückzuweisen, nach Möglichkeit ohne sie zu kränken. Eins dieser Mädchen hatte kurz danach die Universität und das Fach gewechselt, ein anderes verfolgte ihn mitihrem Hass und denunzierte ihn mit wüsten Beschuldigungen bei Frieder Schlösser, doch er hatte beizeiten dem Chef davon berichtet, sogar eine schriftliche Notiz eingereicht, und irgendwann war die Sache ausgestanden. Zwei Mädchen schrieben ihm monatelang Liebesbriefe, sie steckten sie in sein Fach im Institut oder schickten sie ihm nach Hause. Er antwortete ihnen nicht, vermied es, mit ihnen allein zu sein oder bei ihren Prüfungen, sei es nur als Beisitzer, teilzunehmen.
    »Sie können sagen, was Sie wollen, aber ich liebe Sie«, beharrt Annika.
    »Und woher wollen Sie das wissen? Woher wollen Sie wissen, dass Sie nicht nur einer kleinen verliebten Laune aufgesessen sind, über die Sie schon morgen nur noch lachen können? Warum sollten Sie sich in einen alten Mann verlieben? Das ist aussichtslos, Annika. Suchen Sie sich einen jungen Mann aus, ich stehe nicht zur Verfügung, ich habe eine Freundin.«
    »Nein, das

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