Weiskerns Nachlass
er erfuhr davon, wenn sie bei ihm anrief und ihn um Geld bat. Ein einziges Mal hatte er ihr Geld gegeben, da arbeitete er als Pressesprecher einer der neu gegründeten Parteien und verdiente gut, später hatte er ihr gesagt, mit seinem dürftigen Dozentengehalt könne er nicht den Befreiungskampf der gesamten revolutionären Welt finanzieren. Das schwierige Verhältnis zu ihr besserte sich nicht, noch immer nahm sie höchstens einmal im Jahr Kontakt mit ihm auf, und stets ging es dann um Geld, das sie dringend brauchte. Soweit er es wusste, war auch ihre Beziehung zur Mutter seit Jahren eisig, Judith hatte sich offenbar ebenfalls von ihr losgesagt. Er konnte nur hoffen, dass sie irgendwann mit sich zurechtkam und vielleicht auch zur Vernunft, aber er wollte und konnte keine Gefühle mehr investieren, sie hatte ihn zu oft enttäuscht und gekränkt und verärgert.
Vierzehn
Hittich ruft um acht Uhr früh an, zwanzig Minuten später erscheint er. Aberte, oder vielmehr Frank Bärensteiner, wie er richtig heißt, sei vorübergehend festgenommen worden, erzählt er. In zwei Stunden erwarte er einen Kollegen aus Wien, der ihn befrage, bevor sie ihn vermutlich frei lassen werden. Bei dem Treffen im Paulaner habe Bärensteiner alles geleugnet, auch abgestritten, dass er unter dem Namen Aberte Manuskripte angeboten habe, aber er hatte die angeblichen Weiskern-Briefe auf dem Tisch liegen. Hittich zieht ein Bündel Papiere aus seiner Aktentasche.
»Ich habe Kopien mitgebracht, Herr Stolzenburg, wenn Sie sich diese einmal ansehen wollen. Es sind handschriftliche Briefe in Sütterlin, und das Briefpapier ist ordentliches Bütten. Nach den Vermutungen unseres Sachverständigen, er hat bisher nur einen ersten Blick darauf werfen können, ist es wahrscheinlich keine zwanzig Jahre alt. Das Bütten, das ergab seine erste und noch vorläufige Prüfung, stammt seiner Ansicht nach aus einer Papiermühle in der Nähe von Tübingen, die allerdings erst seit hundertfünfzig Jahren besteht, also hundert Jahre nach den auf den Briefen angegebenen Daten. Es müssen also Fälschungen sein. Ich weiß nicht, wieweit Sie die Handschrift jenes Weiskern kennen?«
»Können Sie mir die Kopien dalassen? Dann könnte ich sie prüfen und Ihnen ein Gutachten schreiben.«
»Nein, das ist ausgeschlossen, Sie sind kein zugelassener Gutachter, und ich kann Ihnen kein Beweismaterial aus einer laufenden Untersuchung geben.«
»Aber Sie werden keinen Gutachter finden, der etwas von Weiskern versteht.«
»Das mag sein. Aber es gibt Vorschriften.«
»Die Namen Weiskern und Mozart tauchen in den Briefen tatsächlich auf?«
»Es sind Briefe, die von einem Weiskern unterschrieben sind, und es wird alles Mögliche über Wien und auch Mozart geschrieben. Doch, wie gesagt, es sind Fälschungen, das hat unser Labor unzweideutig festgestellt. Ich würde von Ihnen gern wissen, was das für Texte sind, ob diese angeblichen Originale noch auf etwas anderes verweisen, eine neue Spur liefern.«
»Überlassen Sie mir Kopien von diesen Briefen, dann kann ich es Ihnen sagen.«
Hittich schüttelt den Kopf und überlegt. Dann fragt er, ob Stolzenburg einen Kopierer in der Wohnung habe, und fragt, als dieser es bejaht: »Darf ich Ihre Toilette benutzen?«
Stolzenburg nickt erfreut. Nachdem der Kommissar das Zimmer verlassen hat, kopiert er zügig das Bündel Papiere und lässt die Kopien sichtbar auf dem Tisch liegen. Hittich übersieht sie demonstrativ, als er zurückkommt, sich das Knopfmikrofon zurückgeben lässt, seine Tasche packt und sich verabschiedet.
Stolzenburg hat noch zwei Stunden Zeit, bevor er sich auf den Weg ins Institut machen muss, und er nutzt sie, um sich die Briefe anzusehen, für deren Besitz er fast ein kleines Vermögen geopfert hätte. Die Manuskripte scheinen, soweit er es nach der Kopie beurteilen kann,alt und sogar rissig zu sein, die Schrift ist sehr gleichmäßig und, nachdem er sich in die ihm ungewohnte Schreibschrift eingelesen hat, leicht zu entziffern. Weiskern oder der Fälscher reden den Vater als »ehrwürdig« und mit »mon très cher père« an, die Mutter als »allerbestes Muttchen«, um Gottes Segen wird mehrfach gebeten, und der Sohn bezeichnet sich stets als ehrerbietig. Der Rittmeister Bretzner wird als großzügiger Förderer bezeichnet, dessen Weiskern lebenslang in Dankbarkeit gedenken wird. Ein handschriftlicher Gruß der Kaiserin liegt tatsächlich zwischen den Briefen, ein Billett mit drei Zeilen und der schwungvollen
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