Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
Vom Netzwerk:
weich fallen, er kann sich alles erlauben. Und ganz so, als ob Hollert seine Gedanken erraten hat, sagt er in der Tür zu ihm: »Ich hoffe, Herr Doktor Stolzenburg, wir sehen uns morgen Abend. Es wird einen kleinen Imbiss geben, und wenn Sie mit Begleitung kommen wollen, herzlich gern. Mein Vater und mein Onkel würden sich freuen.«
    Stolzenburg bleibt im Zimmer sitzen, obwohl sich kein weiterer Student für die Sprechstunde angemeldet hat. Dieser Hollert hat ihn in jeder Hinsicht überrascht. Offenbar zieht dieser Kerl sein Studium mit großer Härte durch, verlangt sich mehr ab als jeder andere und weiß sehr genau, was er will und wie er es erreichen kann. Von dem, was ihm wichtig erscheint, nimmt er, was er braucht, auf den Rest verzichtet er. Und von seinem Institut will er das Diplom, den Zettel, wie der Kerl sagt, allein aus dem Grund, um an das Erbe zu kommen. Respekt, Hollert, sagt er zu sich, ich habe dich falsch eingeschätzt. Und ebenso direkt und unbekümmert um Verluste geht der junge Mann bei seinem Versuch vor, ihn zu bestechen. Er hat es in den Jahren an der Uni häufiger erlebt, dass Studenten ihn beeinflussen wollten, um irgendetwas bei ihm zu erreichen, es gab mehr oder weniger versteckte Signale, ihm etwas anzubieten, ein wertvolles Buch, eine Antiquität oder, und dieses Angebot kam am häufigsten, Sex. Aber nie ist eine Offerte so offen und unverschämt erfolgt wie bei Hollert. Und der Kerl hat zudem nicht die geringsten Skrupel. Er hat sich, nicht ungeschickt und durchaus in der Logik der Argumentation, sogar einiger Lehrsätze des Konfuzius bedient, die er im Seminar aufschnappte. Sein Auftritt war gut vorbereitet, durchdacht, taktisch geschickt aufgebaut. Er hatte sich vorbereitet, vielleicht schon seit Tagen und Wochen, der Vorstoß war keiner Laune entsprungen und auch nicht erst bei der wohl eher zufälligen Einladung seines Vaters entstanden. Seitdem Hollert wusste, dass er dieses Studienfach allenfalls mit Mühund Not beenden kann, wird er an dem Plan gebastelt haben, ein ausreichend gutes Diplom zu erhalten. Und ausgerechnet auch noch seinen Konfuzius dazu zu benutzen, war das Sahnetörtchen seines Konzepts. Das war unverschämt und genial. Er hat sich in Hollert getäuscht, muss er sich eingestehen. Freilich kann er ihm nicht helfen, denn wenn er auch seine geschäftstüchtige Moral noch so kunstfertig vorträgt, was er will, das ist ein Betrug, der Stolzenburg teuer zu stehen käme. Er wäre, wenn er auch nur einen einzigen Euro von ihm nehmen würde, in seiner Hand, er wäre künftig erpressbar.
    »Nein, Hollert«, sagt er laut in den leeren Raum. »Gut ausgedacht, sehr gewandt, aber ich muss passen.«
    Er steht auf, verschließt den Raum und wirft, da Sylvia nicht da ist, den Schlüssel in den hölzernen Briefkasten neben der Sekretariatstür. Beim Heimfahren beschäftigt ihn allein der Gedanke, wie es möglich war, diesen Hollert so völlig falsch beurteilt zu haben, denn er bildete sich etwas ein auf seine Menschenkenntnis nach den vielen Jahren, die er als Lehrer gearbeitet hat. In diesem Burschen hatte er sich getäuscht, gründlich getäuscht.
    Daheim drückt er zuallererst auf den Knopf des Anrufbeantworters, Henriette hat nicht angerufen, es sind nur drei lästige Anrufe, die er umgehend löscht. Er macht sich einen Tee und setzt sich an den Schreibtisch, um zwei Rezensionen zu Büchern zu schreiben, die schon seit vierzehn Tagen bei ihm liegen. Die Bücher bringen nichts Neues, sind miserabel geschrieben, kurz: sind langweilig und unerheblich, und bei beiden hat er nur die ersten fünfzig Seiten gelesen, den Restdurchgeblättert, das Buch quergelesen, wie man in der Redaktion sagte. Ein paar Sätze hat er angestrichen, teils weil sie das Anliegen des Autors verdeutlichten, teils weil sie seiner Meinung nach dessen fehlende Qualifikation bewiesen oder stilistisch misslungen waren. Er ist entschlossen, die zwei Artikel noch an diesem Abend herunterzuschreiben und fertig zu stellen, er will mit diesem Unsinn keine unnötige Zeit verlieren, die beiden Autoren werden es überleben, er kennt sie nicht, ist ihnen nicht verpflichtet, etwas beißende Ironie ist daher angebracht und erlaubt. Am späten Abend holt er sich ein Glas Wein, liest die beiden Artikel noch zweimal durch und sendet sie ab. Erst als er ins Bett geht, spürt er, wie sehr er den ganzen Abend auf Henriettes Anruf gewartet hat. Er ist beunruhigt und verärgert, er entschließt sich, sie spätestens morgen

Weitere Kostenlose Bücher