Weiß (German Edition)
auch von Kneif und den merkwürdigen Beobachtungen im Haus von Galen berichtete. Er wollte nicht, dass sie dachte, er hätte den Verstand verloren. Er erwähnte nichts von Superkräften, nichts von seinem Verdacht, selbst für die Todesfälle verantwortlich zu sein. Stattdessen erzählte er ausführlicher von der weißen Flüssigkeit, die den Toten aus Augen und Mündern gelaufen war.
Lydia verzog angewidert das Gesicht, wirkte aber eher belustigt als erschrocken. „Wie meinst Du das? So, als wäre denen Milch aus den Augen gelaufen?“ Sie begann leise zu kichern und blubberte wie am Morgen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
„Nein, Milch ist zu flüssig. Eher so wie … wie Sahne. Ja, wie Sahne und sie schlug Bläschen. So als ließe man Sahne auf eine heiße Herdplatte tropfen“, sagte er.
Lewin redete sich jetzt in Rage. All die aufgestauten Gefühle entluden sich in einer unappetitlichen Schilderung seiner Beobachtung, die bei jedem anderen Zuhörer blankes Entsetzen ausgelöst hätte. Nicht so bei Lydia. Sie hörte interessiert zu und ließ nur hin und wieder einige Geräusche über ihre Lippen rollen, die Lewin als Mischung aus Ekel und Anteilnahme interpretierte.
Als er mit seiner Schilderung fertig war, nahm er einen großen Schluck aus seiner Bierdose, lehnte sich zurück und schaute in den Himmel . Er konnte jetzt immer mehr Sterne erkennen. Sie wurden kräftiger und leuchteten stärker. Lewin fühlte sich erschöpft und erleichtert zugleich.
„Und? Wie hat sich das angefühlt?“ fragte Lydia plötzlich.
Lewin stockte der Atem. Was war das für eine Frage? Glaubte sie etwa doch, dass er etwas mit der ganzen Sache zu tun hatte? Er hatte ihr nichts von seinem Verdacht erzählt. Warum vermutete sie nicht, wie er auch, eine Krankheit hinter den Todesfällen? Die Symptomatik, das abrupte Eintreten des Todes, das alles wies doch eindeutig auf eine Infektion hin. Jeder normale Mensch würde so etwas vermuten! Erneut keimte in ihm der Verdacht auf, dass Lydia über alles, was geschehen war, bereits bestens Bescheid wusste. Dennoch zögerte er einen weiteren Augenblick, bevor er sich dazu entschloss, alles auf eine Karte zu setzen.
„Etwas Vergleichbares habe ich noch nie gefühlt!“
Als der Satz heraus war, fühlte Lewin sich erleichtert. Die Sterne funkelten über ihm und selbst wenn Lydia das nicht verstehen konnte, war er doch froh, in diesem Moment die Wahrheit gesagt zu haben.
„Das kann ich mir vorstellen“, flüsterte sie. „Ich wünschte, ich könnte so etwas auch einmal fühlen. Ich meine so richtig.“
Lewin verstand erneut kein Wort von dem, was Lydia sagte. Die Leichtigkeit, die um sein Herz herrschte, machte es ihm ohnehin kaum möglich, sich auf etwas zu konzentrieren. „Wie meinst du das?“ Er stellte die Frage aus reiner Höflichkeit. Eigentlich interessierte ihn das, was sie gemeint hatte, nur wenig. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Nähe zu genießen, als auf das zu hören, was ihre Stimme ihm ins Ohr flüsterte.
„Was würdest du davon halten, wenn ich dir sagen würde, dass du ein Wolf bist?“
Lewin hatte keine Ahnung, was er auf eine solche Frage antworten sollte und zog es vor zu schweigen. Lydia sah ihn fragend an und er zuckte mit den Schultern. Sie seufzte.
„Gut, vielleicht ist das ein bisschen zu uneindeutig formuliert. Du bist natürlich kein Wolf im eigentlichen Sinn. Es ist vielmehr so, als würde ein Wolf in dir stecken. Ganz tief, irgendwo in deinem Unterbewusstsein verborgen.“
Lewin glotzte sie ratlos an.
„So ein Wolf steckt eigentlich in jedem Menschen. Er ist so etwas wie das Ursprüngliche im ihm. Etwas, das schon immer da war und mit dem Wesen des Menschen zusammenhängt. Ich meine, es ist ja wohl klar, dass der Mensch ein Raubtier ist. Da sind wir uns einig?“
Lewin nickte vorsichtig.
„Um überleben zu können, musste der Mensch schon immer kämpfen. Das liegt einfach in seiner Natur. Und auch, wenn die Umstände anders sind, als sie es meinetwegen noch in der Steinzeit waren, hat sich an der Natur des Menschen im Grunde doch nichts geändert. Er ist immer noch ein Raubtier und er hat immer noch den Drang in sich, zu kämpfen. Kapierst du?“
Lewin war sich nicht sicher, nickte aber erneut.
„Also, diesen Drang in dir, den kannst du jetzt Trieb oder Verlangen oder was auch immer nennen. Ich bevorzuge den Begriff Wolf, weil er das Animalische betont.“ Sie kicherte kurz. „Dieser Wolf ist nicht bei allen Leuten
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