Weiß (German Edition)
gleich groß und auch nicht gleich stark. Bei manchen Leuten ist der Wolf völlig verkümmert und schwach. Ich stelle ihn mir immer total abgemagert oder steinalt vor. Oder ein bisschen behindert.“
Sie kicherte erneut und verschluckte sich dabei fast an ihrem Bier. Sie hustete kurz und fuhr dann fort. „Dann kann man mit diesem Wolf natürlich nicht mehr besonders viel anfangen. Gleiches gilt für die Wölfe, die in Ketten gelegt wurden. Manche Leute spüren nämlich, dass sie so ein Tier in sich haben, fürchten sich aber davor.“
Sie lächelte, schaute verschwörerisch in Lewins immer noch fragendes Gesicht und schnaubte verächtlich, als sie keine Reaktion bekam.
„Ja was meinst du denn, weshalb es Kriege, Morde und dieses ganze Zeug auf der Welt gibt? Denkst du, es ginge bei diesen Dingen wirklich um rational vertretbare Gründe? Das ist doch alles völliger Quatsch. Schuld an allem sind die Wölfe! Irgendjemand passt mal nicht gut auf, hat sich nicht richtig unter Kontrolle und dann passiert so etwas. Und dass das nicht gut ist, kannst du dir ja wohl vorstellen.“
Lewin fragte sich, wann sie endlich zum Punkt kommen würde. Dieses Gerede verursachte ihm Kopfschmerzen. Er konnte ihr nicht folgen und eigentlich wäre es ihm lieber, sie würde endlich den Mund halten. Er wollte einfach nur ihre Nähe genießen und keine Erklärungen hören, die er nicht verstand.
Lydia aber hörte nicht auf zu reden: „So etwas muss verhindert werden. Diese unkontrollierten Ausbrüche sind schlecht! Schlecht für das Gleichgewicht eines jeden und dementsprechend auch schlecht für jeden, der innerhalb dieses Gleichgewichts existiert.“ Sie atmete tief ein und blickte in den Sternenhimmel. „Das alles hier, Lewin, ist viel größer als du dir vorstellen kannst. Ich will jetzt nicht in jedes noch so kleine Detail gehen, aber an all dem hier hängt so viel mehr. Wenn das Gleichgewicht verloren geht, endet alles früher oder später im Arsch.“ Sie wandte sich wieder ihm zu, ergriff ihn an den Schultern und schaute ihm direkt in die Augen. „Und deshalb ist es so wichtig, dass es Leute wie dich gibt! Menschen, die über so ein enormes Potential verfügen, dass sie in der Lage sind, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Verstehst du, was ich dir hier sagen will? Du allein kannst dafür sorgen, dass alles wieder ins Lot kommt und zwar dadurch, dass du deinen Wolf endlich mal ans Licht lässt. Du hältst ihn schon viel zu lange gefangen! Dadurch konnten die Dinge doch überhaupt erst außer Kontrolle geraten.“
Sie deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die Stadt Weiß, die sich dunkel vom sternenbeleuchteten Nachthimmel abhob.
„Siehst du denn nicht, was diese Stadt anrichtet? Sie frisst Energie! Haufenweise Energie, die sie dir und anderen wie dir entzieht. Diese Stadt ist schlecht, Lewin. Sie saugt dich aus, höhlt dich aus, bis von dir nichts mehr übrig ist als eine willenlose Hülle. Und dasselbe tut sie auch mit anderen. Du bist auserwählt Lewin! Du hast die Macht in dir, es dieser verdammten Stadt zu zeigen.“ Ihre Stimme wurde immer lauter und energischer. „Ich habe dein wahres Ich schon vor langer Zeit erkannt. Ich habe deine Macht gespürt und immer gehofft, dass du irgendwann so weit sein wirst. Aber du hast dich immer wieder zurückgezogen, hast nicht an dich geglaubt. Du hast dich versteckt und bist zu einem Schatten deiner selbst geworden. Sieh dich doch mal an. Schau wie du hier lebst. Du bist wie eine Ratte, die sich heimlich durch die Straßen stiehlt. Und genau das ist es, was diese Stadt in dir sieht. Ungeziefer! Das kann ich nicht zulassen! Leute wie ich sind dafür da, um dir den richtigen Weg zu zeigen. Um dich an die Hand zu nehmen und dich auf diesen Weg zu führen. Meine Güte, wenn es sein muss, dann gehen wir sogar ein Stückchen mit dir, damit du nicht so allein bist. Aber alles, was dann passiert, liegt nur in deiner Macht.“
Lewin begriff noch immer nicht, worauf Lydia hinauswollte und langsam begann er, an ihrem Verstand zu zweifeln. Lydia schien zu ahnen, was in ihm vorging und resigniert zuckte sie mit den Schultern.
„Was glaubst du denn, weshalb all das heute passiert ist? Es gibt dafür nur eine einzige logische Erklärung. All diese Menschen sind gestorben, weil du es wolltest. Du hast diese besondere Macht, Lewin, also nutze sie gefälligst. Ich sehe, dass es Dir schwerfällt zu begreifen, was hier los ist, aber glaube mir, um dich selbst zu retten, gibt es keinen anderen
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