Weiß (German Edition)
und reichte Lewin den Rest. Dann rauchten sie eine Weile schweigend.
„Ich bin froh, hier zu sein“, sagte sie. „Es gibt so vieles hier, von dem ich nicht genug bekommen kann. Das hier zum Beispiel,“ sie hob die Hand, in der sie die Bierdose hielt und nahm dann demonstrativ einen großen Schluck daraus.
Sie wandte lächelnd den Kopf und schaute Lewin direkt in die Augen. In seiner Magengegend kitzelte es. Diese Augen schienen ihn magisch an- und gleichzeitig auszusaugen. Er spürte, wie sein Kopf immer leerer wurde.
Rasch wandte Lewin den Blick ab und blickte in den dunklen Wald. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er schämte sich, denn offenbar hatte sie einen Witz gemacht, den er nicht verstand. Er konnte sich keinen Ort auf der Welt vorstellen, an dem es kein Bier gab. Selbst die Mönche in ihren Klöstern brauten Bier. Da ihm nichts anderes einfiel, was er sagen konnte, beschloss er eine Blamage zu riskieren.
„Gibt es da, wo du herkommst, kein Bier?“
Lewin war klar, dass diese Frage bescheuert war, aber bei seinem momentanen Geisteszustand war er froh, dass er sich überhaupt so gut artikulieren konnte. Verschämt zog er die Schultern hoch und wartete auf das unvermeidliche Gelächter von Lydia. Die aber schüttelte nur den Kopf.
„Nein, so etwas gibt es bei uns wirklich nicht.“ Ihr Gesicht wurde traurig. „Darum gefällt es mir hier ja so gut. Ich wäre gern öfter hier, aber leider ergibt sich das viel zu selten.“
In ihrer Stimme lag Wehmut und in Lewin brannte das dringende Bedürfnis sie aufzuheitern. „Du kannst doch jederzeit herkommen, wenn du willst. Deinen Onkel besuchen … oder mich ….“ Den letzten Teil des Satzes hatte er nur geflüstert. Aber er war sich sicher, dass sie ihn trotzdem gehört hatte, denn er fühlte, wie sie noch ein Stückchen näher an ihn heranrückte. Sie seufzte, starrte noch einen Augenblick in den Wald und musterte ihn dann ausgiebig.
„Wie geht es dir?“, fragte sie.
Im ersten Moment kam Lewin diese Frage vollkommen deplatziert vor. Sie saßen bereits eine halbe Stunde zusammen auf dieser Bank und getroffen hatten sie sich noch früher. Die Frage nach dem Befinden gehörte an den Anfang einer Unterhaltung und hätte also längst gestellt werden müssen, wenn sie von Interesse gewesen wäre. Trotzdem wusste Lewin, dass es im Grunde genommen die einzige Frage war, die Lydia jetzt hatte stellen können. Die einzige Frage, die zählte. Und als wäre das noch nicht genug, fügte sie forschend hinzu: „Du siehst irgendwie anders aus als heute Morgen.“
Lewin spürte, wie sich ein dicker Knoten in seinem Hals bildete. Er hatte den halben Tag damit verbracht, darüber nachzudenken, dass er Lydia von all den verrückten Ereignissen des Tages erzählen wollte. Aber er hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wie er es ihr erzählen wollte.
Plötzlich wurde ihm klar, wie lächerlich das Ganze war. Wie sollte er Lydia erzählen, dass er davon überzeugt war, heute nicht nur mehrere Katzen, sondern auch einige Menschen umgebracht zu haben. Und das, ohne sie überhaupt nur zu berühren. Bei den Katzen war er sogar nicht einmal anwesend gewesen. Was hielt so ein Mädchen wie Lydia wohl von Gerede über Superkräfte? Über Macht und Unbesiegbarkeit? - Lewin konnte es sich bildlich vorstellen. Und diese Vorstellung hatte nichts mit dem Bild gemeinsam, dass er von dem Ausgang dieser Verabredung gehabt hatte. Fieberhaft dachte er nach, kam aber zu keinem Ergebnis.
Als sie keine Antwort bekam, fuhr Lydia fort Fragen zu stellen: „Was ist mit den Jungs von heute Morgen. Die, die hinter dir her waren. Sind die dir nochmal blöd gekommen?“
Lewin schüttelte den Kopf, brachte aber noch immer kein Wort über die Lippen.
„Haben sie dich in Ruhe gelassen oder hast du ihnen dieses Mal gezeigt, dass du dir nicht mehr länger alles gefallen lässt?“
Lewin hob den Kopf und sah Lydia tief in ihre unergründlichen Augen. Wusste sie etwa, was passiert war? Hatte sie vielleicht tatsächlich etwas mit den Ereignissen dieses Tages zu tun? Das war unmöglich. Lächerlich! Aber auch nicht weniger absurd, als alles andere, was er heute erlebt hatte.
Bevor er noch weiter darüber nachdenken konnte, hörte er auf einmal seine eigene Stimme, die begann, dem fremden Mädchen von den Ereignissen des Tages zu erzählen. Die Stimme berichtete ohne sein Zutun von den Katzen, dem alten Mann und dem schönen Aaron. Er konnte gerade noch die Oberhand gewinnen, bevor er ihr
Weitere Kostenlose Bücher