Weiß (German Edition)
das nicht. Er hatte mehrere Menschen getötet. Ob nun absichtlich oder nicht, so etwas veränderte einen. Heute würde er keine Probleme damit haben, sich im Bus zu zeigen.
Er lächelte bei dem Gedanken an das Gesicht von Simon und den Anderen, wenn sie ihn zusammen mit der geheimnisvollen Lydia erblicken würden. Er hatte jetzt keine Angst mehr. Was sollte ihm schon passieren? Es passierte, was passierte und Lewin konnte sich nicht vorstellen, dass er am Ende der Leidtragende sein würde. Alles in ihm fühlte sich jetzt so richtig an, dass es einfach nicht falsch sein konnte.
Er kämmte sich das Haar, nur um es anschließend wieder zu zerwühlen. Er hatte sich nie um sein Aussehen geschert, aber heute wollte er einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Er wollte gut aussehen. Dafür benutzte er sogar etwas Rasierwasser. Heute gab es einen Grund zu feiern.
Lewin verließ das Badezimmer und stieg langsam die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer setzte er sich auf den Boden und zündete sich eine Zigarette an. Dann lehnte er sich gegen die weichen Sofakissen und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Obwohl er dieses Zimmer nicht ausstehen konnte, war er sich sicher, dass er es vermissen würde. Jeder Zentimeter in diesem Raum sah muffig aus. Lewin musste immer an ein Bild aus einem Katalog denken, dass er als Kind mal bei seiner Großmutter gesehen hatte. Genau so sah es hier aus. Brauntöne. Erdige Vorhänge, Eichenmöbel, kastanienfarbener Teppich. Das Sofa bestand aus braunem Cord, die Kissen waren olivgrün und bildeten damit den traurigen farblichen Höhepunkt in diesem Zimmer. Er fragte sich, warum seine Mutter niemals auf die Idee gekommen war, hier zu renovieren. Seit er denken konnte, hatte es hier so ausgesehen. Überhaupt war im gesamten Haus niemals etwas verändert worden. Einzig sein eigener Umzug vom ersten Stock in den Keller hatte die Tradition durcheinandergebracht. Das war aber bereits alles. Typisch Weiß. Hier veränderte sich nie etwas. Pure Stagnation. Bis heute. Denn heute hatte sich alles verändert.
Lewin seufzte. Es war jetzt kurz nach sieben. Um acht wollte er Lydia am Laden treffen und um halb zehn begann das Konzert im Bus. Dazwischen lag noch genug Zeit, um sich mit Lydia zu unterhalten. Er war sich in den letzten Stunden von Minute zu Minute sicherer geworden, dass die geheimnisvolle Unbekannte etwas über die ungewöhnlichen Ereignisse des Tages wissen musste. Zumindest würde es gut tun, mit ihr darüber zu reden. Er zweifelte nicht daran, dass sie ihm zuhören und auch glauben würde.
Ein zischendes Geräusch ließ Lewin aus seinen Gedanken hochschrecken. Langsam drehte er den Kopf zur Tür und wusste instinktiv, welcher Anblick ihn erwarten würde. Auf der Türschwelle stand der Kater des alten Mannes und starrte ihn mit seinen toten Augen an. Sein Maul war leicht geöffnet und ließ bedrohlich klingende Laute ertönen, sein Schwanz war kerzengerade in die Höhe gerichtet.
Lewin erhob sich ächzend vom Boden. Dies konnte ein letzter Test sein. Eine letzte Bestätigung, derer er eigentlich schon nicht mehr bedurfte. Wenn es jetzt funktionierte, dann war er sich sicher. Und dann gab es kein Zurück mehr. Lewin lächelte. Obwohl der Kater ihn nicht sehen konnte, zuckte er zusammen und verbog seinen Rücken zu einem abnorm großen Buckel. Sein Fauchen wurde zu einem unsicheren Krächzen und verstarb dann ganz. Ruckartig bewegte der Kater seinen Kopf hin und her, als wüsste er nicht, aus welcher Richtung ihm die Gefahr drohte und wie er sich verteidigen sollte.
„Na komm du kleines Mistviech, hab doch keine Angst vor mir.“ Lewins Stimme war ruhig und leise, hatte aber einen bedrohlichen Unterton, den das Tier zu spüren schien. Leise wimmernd wich der Kater ein paar Schritte zurück. Lewin ging weiter auf ihn zu. Er dachte an die unzähligen Male, in denen dieses Mistvieh ihn mit seinen scharfen Krallen gekratzt hatte. Daran, wie es ihm ins Gesicht gesprungen war oder ihm seinen ranzig stinkenden Atem in die Nase geblasen hatte. Und es dauerte nicht lange und das warme, mittlerweile so geschätzte Gefühl in Lewins Innern war wieder da. Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen und er begann leise zu glucksen.
Bei den anderen Katzen hatte es funktioniert, ohne dass er überhaupt mit ihnen in Kontakt getreten war. Dann sollte es doch bei diesem blinden Kater, der dort vor ihm hockte und ängstlich mit seinem Schwanz hin und her peitschte, ein Leichtes sein. Lewin konzentrierte sich
Weitere Kostenlose Bücher