Weiß (German Edition)
bei Haralds Anblick an einen Bären erinnerten. Auch seine Körperbehaarung konnte mit jedem dieser fleischigen Waldbewohner mithalten. So war von seinem Gesicht eigentlich kaum mehr als die blauen Augen zu erkennen; der Rest war von einem durchgehenden Teppich dunkelbrauner Locken überwuchert. Wenn er sich mal nackt ausgezogen hätte und anschließend über Wald und Wiesen gehüpft wäre, bin ich mir sicher, es hätte nicht lang gedauert und die Jäger hätten ihre Flinten auf den Bärenmann Harald angelegt.
Abgesehen von seiner Statur und seiner Stimme war er ein unbeschriebenes Blatt. Er arbeitete ab und zu bei einem örtlichen Handwerker, stellte keine Fragen und dachte nicht lange nach. Er tat, was man ihm sagte und wenn man ihn anschließend lobte, war er zufrieden, lächelte in seinen Bart und trollte sich, bis man ihn wieder brauchte.
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich im Grunde genommen nichts über Harald weiß! Seine imposante Erscheinung hat mir immer Angst gemacht, aber abgesehen davon, habe ich mich kaum mit ihm beschäftigt. Er war Simons Handlanger, half ihm bei verschiedenen Sachen und schien froh zu sein, wenn er mit ihm und den Anderen zusammen sein konnte. Ich weiß nicht, ob sich irgendjemand etwas aus Harald gemacht hat; vielleicht war er dafür zu unscheinbar. Mir jedenfalls war er egal. Er war groß, stark und gefährlich. Das genügte.
Vier
Eine kalte Hand legte sich ihm heftig auf die Schulter und Lewin zuckte zusammen. Erschrocken riss er die Augen auf und sah sich um. Er musste während des Tanzens vollkommen abgeschaltet haben. Der Bus war jetzt nicht länger leer, sondern bis auf den letzten Platz mit allen möglichen Leuten gefüllt. Lydia stand ein paar Meter von ihm entfernt reglos in der tanzenden Menge und schaute ihn an. Ihren Augen waren ausdruckslos. Langsam senkte sich ihr Kopf und sie nickte ihm zu.
Erst jetzt wurde Lewin bewusst, dass die unbekannte Hand noch immer auf seiner Schulter lag. Er wollte sich umdrehen, um zu sehen, wer dort hinter ihm stand, aber die Hand hielt ihn eisern fest, sodass er sich kaum rühren konnte. Ein drohendes Grollen drang an sein Ohr.
„Du sollst hier nicht sein!“
Auch wenn die Stimme nur flüsterte, erkannte Lewin Harald sofort. Er schauderte. Der Tanz und der Kuss hatten ihn vergessen lassen, weshalb er eigentlich hier war. Er horchte in sich hinein, ob da nicht doch ein Gefühl von Reue oder Furcht wäre, aber er spürte nichts. Er fühlte weder Angst noch Mitleid, eher etwas, das man wohl am besten als Vorfreude bezeichnen konnte.
Mit einer schnellen Bewegung drehte Lewin den Oberkörper nach links, und spannte sämtliche Muskeln an. Dann sackte er plötzlich in sich zusammen und riss sich aus Haralds Umklammerung. Er hüpfte ein paar Schritte nach vorn, drehte sich herum und sah dem bärtigen Riesen direkt in die Augen.
„Ich glaube nicht, dass du mir irgendwas zu sagen hast!“
Lewins Stimme klang erstaunlich fest in seinen Ohren und er freute sich diebisch angesichts des überraschten Ausdrucks, der für einen kurzen Augenblick über Haralds Gesicht huschte. Dann fing der Hüne sich wieder und schob seine Hand nach vorn.
Obwohl diese Bewegung nicht im Geringsten schnell ausgeführt wurde, hatte Lewin keine Chance sich zu bewegen. Haralds Hand schloss sich wie ein Schraubstock um Lewins rechten Oberarm und nur wenige Sekunden später wurde er quer durch das Lokal geschleift. Lewin wehrte sich nicht, denn er wusste, dass das Nachfolgende unvermeidlich war.
Als Harald ihn durch die Tür des Bus ses nach draußen schubste, warf Lewin einen letzten Blick auf Lydia. Die stand noch immer reglos inmitten der tanzenden Menge, lächelte ihm jetzt aber aufmunternd zu.
Draußen schien es in der Zwischenzeit heftig geregnet zu haben. Durch Lewins zerschlissene Turnschuhe drang eiskaltes Wasser, als Harald ihn quer über den Parkplatz schubste. Dabei murmelte dieser immer wieder kaum verständliche Sätze vor sich hin: „… werd ichs zeigen … ausgerechnet hierher … allen zeigen … fertigmachen …!“
Lewin konnte sich nicht von einem kleinen Lächeln abhalten. Auch wenn Harald alles andere als sanft mit ihm umsprang, empfand er doch eine gewisse Belustigung angesichts dessen, was dem haarigen Riesen in wenigen Augenblicken blühen würde. Der Bärenmann hatte ja keine Ahnung, was auf ihn zukam.
Am Ende des Parkplatzes, weit weg von allen Menschen, angekommen, hielt Harald schließlich an. Lewin wusste, was jetzt
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