Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
auf dem anderen. Nur die weiße Asche uralter Träume. Das ist die grausamste aller Zerstörungen: den Menschen die Träume nehmen. Lager voller Menschen, die zusammen mit ihren Träumen verbrannt wurden. Nazis, Träumeklauer. Wenn man keine Träume hat, nimmt man sie anderen weg, damit sie auch keine haben. Der Hass zerfrisst einem das Herz und brennt alles nieder …
Als ich mit dem Schreiben fertig bin, ist es draußen noch immer dunkel, und das Schwarz, das ich der Nacht gestohlen habe, füllt jetzt als Buchstaben den weißen Bildschirm. Ich habe etwas herausgefunden: durch Nachdenken, durch Schreiben. Es ist das erste Mal – was aber nicht heißt, dass mir das jetzt gleich zur Gewohnheit wird … Und natürlich ist die schwarze Druckerpatrone leer, also muss ich in Farbe drucken. In Rot.
Der Träumer geht durch die Bänke und sieht sich an, was bei der Hausaufgabe herausgekommen ist. Alle scheinen sie gemacht zu haben. Wer will, kann sich melden und sie laut vorlesen. Es ist, als lebten der Staub und das Feuer antiker Zeiten wieder auf, dabei sitzen wir in der Klasse. Jeder hat etwas geschrieben, auf das er stolz ist, zumindest die, die sich trauen, es vorzulesen. Ich gehöre natürlich nicht dazu, laut zu lesen ist wie Singen. Die Glocke ertönt. Eifrig recken wir dem Träumer unsere Hausaufgaben hin, aber er will sie gar nicht. Unglaublich! Wir sollen die Antworten, die wir gefunden haben, lieber für uns behalten.
Der Träumer ist echt nicht mehr ganz dicht. Erst gibt er einem eine Hausaufgabe, und dann will er sie nicht benoten. Was ist denn das bitte für ein Lehrer, der keine Noten verteilt? Aber immerhin hat er es geschafft, dass jeder sich hinsetzt und was schreibt. Sogar ich, inmitten der schwärzesten Nacht. Vielleicht braucht es gar keine Note, um einen zum Lernen zu kriegen. Allmählich leert sich die Klasse, aber der Träumer bleibt sitzen. Er lächelt, und seine Augen leuchten. Er glaubt an uns. Er hält uns zu schönen Dingen fähig. Vielleicht ist er doch nicht so ein Loser.
Ich werde nicht zulassen, dass die Plünderer meine Träume niederbrennen und sie in Asche verwandeln. Niemals. Sonst würde ich womöglich nicht mehr hochkommen. Aber Beatrice braucht mich, nicht einen jämmerlichen Trümmerhaufen. Ich will das, was ich herausgefunden habe, nicht vergessen. Es ist einfach zu wichtig, aber ich habe ein mieses Gedächtnis. Ich muss alles aufschreiben, sonst ist es weg. Vielleicht muss ich Schriftsteller werden, um mein Gedächtnis auszutricksen.
Ich muss mit Silvia darüber reden, sie ist die Einzige, die mich nicht auslacht. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, kommt sie auf mich zu, hakt sich unter und legt den Kopf auf meine Schulter.
»Was wolltest du gestern? Ich hab erst heute Morgen gesehen, dass du angerufen hattest.«
»Ich wollte, dass du mir bei der Hausaufgabe hilfst.«
Silvia hebt den Kopf und sieht mich traurig an.
»Klar. Was sonst?«
Sie macht sich los und geht weg.
Ich sehe ihr verständnislos nach, als hätte ich was nicht mitgekriegt, wie wenn mein Vater mir etwas sagt und was anderes meint. Übrigens, ich muss mit ihm reden, ehe ich’s wieder vergesse …
W e nn ich was total geil finde, dann sind es die »Contests« mit Niko. Contests sind gefährliche Mutproben: Das Adrenalin pumpt einem durch die Adern und bringt das Blut zum Rasen. Einer meiner liebsten Nervenkitzel ist der Bremser. Man bringt das Moped auf Höchstgeschwindigkeit und bremst erst im letzten Augenblick, und wer am nächsten an das Auto vor einem drangekommen ist, ohne es zu berühren, hat gewonnen. Damit habe ich mir die Bremsen meiner 50er ruiniert. Bei diesem Nervenkitzel hat Niko gegen mich keine Chance, am Ende kriegt er doch immer Schiss. Ich hingegen bremse immer einen winzigen Moment, nachdem mein Überlebensinstinkt mir sagt, dass ich bremsen sollte. Das ist das Geheimnis: das, was man tun sollte, eine Sekunde später tun.
Kaum haben wir den blitzend schwarzen Porsche Carrera an der Ampel gesehen, werfen wir uns einen Blick zu und treten das Gas durch. Einer neben dem anderen. Nur die Luft versucht vergeblich, uns zu bremsen. Der Asphalt dröhnt unter den Rädern, die sich in den bröckeligen Bitumen krallen. Der Arsch des Porsche kommt immer näher, wir fahren so schnell wir können nebeneinander her.
Ein Blick zu Niko, der letzte vor dem Endspurt. Jetzt nur nicht den Nervenkitzel verlieren. Zehn Meter trennen uns noch von dem schwarz glänzenden Porsche-Hintern. Niko bremst.
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