Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
unter einen Hut bringt. Den Zusammenhang muss man irgendwie selbst herstellen. Deshalb ist es auch so schwierig.
Ich weiß noch nicht, ob ich den Aufsatz schreibe. Das ist echt schwer, aber es hat etwas Geheimnisvolles, denn ausnahmsweise kann man die Lösung nicht irgendwo abschreiben. Man muss sie finden. Und vielleicht geht es um mehr. Ich muss es ausprobieren. Ich hasse den Träumer, er kriegt mich immer wieder und macht mich neugierig.
Unwissenheit ist das Bequemste, was ich kenne, mal abgesehen von unserer Wohnzimmercouch.
I ch habe versucht, mit meiner Mutter über meine Blutspende für Beatrice zu reden. Sie kapiert’s nicht, für sie klingt das nach einer von diesen Vampirgeschichten, die gerade angesagt sind. Ich erkläre es ihr. Sie meint, das entscheiden wir später, es sei eine schöne Idee, aber bestimmt seien andere auch schon darauf gekommen. Ich lasse nicht locker.
Red mit deinem Vater.
Die ewiggültige Zauberformel, um die Verantwortung abzuwälzen. Genau das werde ich machen. Ich rufe Niko an und gehe ihn besuchen. Eigentlich sollte ich den Aufsatz für den Träumer schreiben, aber mir fällt nichts ein; vielleicht hilft ein bisschen Musik. Manchmal findet man in der Musik plötzlich die Antworten, die man sucht. Und auch wenn man sie nicht findet, trifft man zumindest auf die gleichen Gefühle. Jemand anders hat genauso empfunden wie man selbst. Man ist nicht allein. Traurigkeit, Einsamkeit, Wut. In fast allen Stücken, die ich cool finde, geht es darum. Wenn ich sie spiele, ist es fast, als würde ich mich diesen Ungeheuern stellen, vor allem, wenn sie namenlos sind.
Doch wenn die Musik verklingt, sind sie immer noch da. Sie mögen fassbarer geworden sein, aber keine Zauberhand hat sie weggefegt. Vielleicht sollte ich mich betrinken, um sie verschwinden zu lassen. Niko meint, das hilft. Beatrice geht es noch immer schlecht, und bevor ich mich besaufe, will ich ihr mein Blut spenden: Der Alkohol soll ihr nicht schaden, sie ist so rein. Ich muss mit Papa reden. Sofort.
P apa ist zum Abendessen nicht nach Hause gekommen. Als er dann kam, war es so spät, dass ich mich nicht mehr getraut habe, ihn irgendetwas zu fragen. Es war nicht der passende Moment. Er hätte mich kurzerhand niedergebügelt, und ich konnte es mir nicht leisten, meine einzige Chance zu vertun. Ich bin noch wach, weil ich versuche, den Aufsatz für den Träumer zu schreiben. Kniffelige Aufgaben gehen mir normalerweise am Hintern vorbei. Wenn ich sie nicht packe, lege ich mich gemütlich schlafen und schreibe sie am nächsten Tag ab. Ich weiß nicht, aber diesmal ist da noch irgendetwas anderes, das mich die Herausforderung annehmen lässt. Als würde ich den Träumer und mich selbst bescheißen, wenn ich einfach aufgäbe.
Ich sitze vor dem Computerbildschirm. Ich schreibe die Fragen der Aufgabenstellung ab: »Wieso sind Rom, Alexandria und Byzanz von ihren Eroberern nieder gebrannt worden? Was hat die Barbaren, Araber und Türken dazu bewegt? Was war ihnen trotz aller Unterschiede gemein?« Weiß. Mir fällt nichts ein. Weiß wie dieser verdammte Bildschirm. Weiß wie Beatrices Blut. Ich rufe Silvia an. Sie geht nicht ran. Silvia lässt das Handy immer an, weil sie möchte, dass ich sie jederzeit erreichen kann. Silvia ist mein Schutzengel. Nur, dass sie nachts schläft und das Handy manchmal nicht hört. Ich muss es allein schaffen.
Es ist spät. Draußen steht die schwarze Nacht, und mein Hirn ist weiß. Ich versuche mich in einen der Plünderer hineinzuversetzen und überlege, was mich dazu treibt, diese Bücher zu verbrennen. Ich streife durch die staubigen Straßen Roms, Alexandrias und Byzanz, das, wie ich herausgefunden habe, später Konstantinopel und dann Istanbul hieß, und lasse unter dem Schreien und Toben der Menge Tausende von Büchern in Flammen aufgehen. Ich befreie mich von all diesen papiernen Träumen und verwandele sie in Asche. In weißen Rauch.
Das ist die Antwort. Die Träume einäschern. Das Verbrennen der Träume ist der Schlüssel, um den Feind endgültig zu bezwingen; er findet nicht mehr die Kraft, sich aufzurappeln und von vorn anzufangen. Sie sollen nicht mehr von der Schönheit ihrer Städte, von fremden Leben und unbekannten Geschichten voller Freiheit und Liebe träumen. Sie sollen gar nichts mehr träumen. Verwehrt man den Menschen die Träume, werden sie zu Sklaven. Und ich, der Städteeroberer, brauche Sklaven, um friedlich und ungestört herrschen zu können. Deshalb bleibt kein Wort
Weitere Kostenlose Bücher