Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
Aufmerksamkeit zu stehen, auch wenn es ein paar gebrochene Knochen kostet.
Es ist schön, geliebt zu werden.
S eit ein paar Tagen habe ich einen Zimmergenossen. Ein irre fetter Typ. Gigantisch. Ein Stadtelefant. Er hat sich zwei Wirbel gebrochen. Er darf sich nicht bewegen und muss alles im Bett erledigen, sogar seine Bedürfnisse. Ich hasse seinen Geruch. Er starrt ständig an die Decke oder in die Glotze, die an der Decke hängt. Hin und wieder unterhalten wir uns. Er ist nett. Ihm geht’s total dreckig, aber er nimmt es gelassen. Hin und wieder wird er sauer, wenn er Schmerzen hat oder nicht schlafen kann. Er hat eine Frau, die ihn pflegt. Die Tochter und der Sohn besuchen ihn oft.
Es ist schön, eine Familie zu haben, die um einen ist, wenn es einem schlecht geht. Was macht man eigentlich, wenn man keine Familie, keine Frau, keine Kinder hat? Wer kümmert sich um einen, wenn man krank ist? Der Elefant hat mir gezeigt, was es bedeutet, eine Familie zu haben. Nicht, dass ich keine hätte. Aber durch ihn habe ich gesehen, was ich bislang nicht gesehen habe. Solange man selber drinsteckt, sieht man die Dinge einfach nicht. Die Eltern sind nichts weiter als zwei amtliche Spielverderber, die nur dazu da sind, einem jeden Spaß zu verbieten.
Doch der Elefant, seine Frau und die Kinder haben mich etwas ganz klar erkennen lassen: Wenn ich erwachsen bin, will ich auch so eine einträchtige Familie haben wie er. Dann kann einem selbst eine Krankheit nichts mehr anhaben, und das ist der Sinn eines gut gelebten Lebens: jemand, der einen liebt, auch wenn es einem schlecht geht. Jemand, der deinen Geruch erträgt. Nur wer deinen Geruch liebt, liebt dich wirklich. Er gibt dir Kraft und Zuversicht, und das erscheint mir eine gute Art, die Tiefschläge des Lebens zu bannen.
Ich muss mir das merken. Ich muss mir das auf jeden Fall merken, es muss Teil meines Traums fürs Erwachsensein werden. Mit Beatrice. Schon jetzt liebe ich ihren Duft. Der unwiderstehliche Duft der Träume, des Lebens und der Liebe.
D er Träumer kommt rein. Ich glaub’s nicht. Ein Lehrer, der einen Schüler im Krankenhaus besucht. Zumal ’ ne Vertretung. Ich fühle mich wie ein König, der mit dem Finger den Himmel berührt, oder so ähnlich. Der Träumer setzt sich neben mein Bett und erzählt mir von der Schule. Tests, Hausaufgaben und noch das eine oder andere vom Unterricht. Wir sind auf den letzten Metern, die Weihnachtsferien stehen vor der Tür. Die Tafel ist wieder mit silbernen Girlanden geschmückt, und Barba, der Hausmeister mit dem langen, dicken Rauschebart, in dem ’ ne Menge Christbaumkugeln und Elektrokerzen Platz hätten, hat seinen halb verreckten Weihnachtsbaum aufgestellt. Ich sehe ihn regelrecht vor mir; schade, dass ich ausgerechnet dann, wenn’s mal lustig ist, nicht in der Schule sein kann.
Der Träumer erzählt mir, dass er sich in meinem Alter auch den Arm gebrochen hat, beim Fußballspielen. Er zeigt mir die Narbe, die ihm von der Operation geblieben ist. Ich musste zum Glück nicht operiert werden und war nicht bei Bewusstsein, als sie mir den Knochen zurechtgerückt haben. Der Schlaf erspart einem eine Menge Schmerz. Das Problem ist nur, wenn man aufwacht.
Aber der Träumer ist wirklich lustig, weil er die Dinge erzählt wie jeder andere auch. Nämlich ganz normal. Er führt ein Leben wie ich. Er erzählt mir sogar einen Witz, der zwar nicht lustig ist, aber ich lache trotzdem, um ihn nicht zu kränken. Er fragt mich, wie es um meinen Traum steht, und ich sage ihm, an welchem Punkt ich bin. Und dass mit dem Unfall alles vor die Hunde gegangen ist und ich nicht weiß, ob ich weitermachen will, weil jedes Mal, wenn ich mich dahinterklemme, etwas Blödes passiert: erst Beatrice, dann ich. Der Träumer lächelt und sagt, dass das zu einem wirklichen Traum dazugehört.
»Wirkliche Träume brauchen Hindernisse. Sonst werden aus ihnen niemals Pläne. Genau das ist der Unterschied zwischen einem Traum und einem Plan: die Hiebe, wie in der Geschichte meines Großvaters. Träume sind nicht einfach da, sie offenbaren sich nach und nach und vielleicht anders, als wir sie uns erträumt haben …«
Der Träumer will damit sagen, dass ich mich glücklich schätzen kann, mit kaputtem Rücken im Bett zu liegen! Ich glaube ihm nicht und sage es ihm.
»Das habe ich nicht bezweifelt.«
Wir lachen. Doch er erklärt mir, dass ich in diesem Bett liege, weil ich gerade dabei war, etwas ganz Besonderes zu tun, ich wollte den Brief
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