Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
einigermaßen auf der Reihe, wer und wo ich bin, sehe ich zwei blaue Augen vor mir, zartschimmernd wie der erste Morgenhimmel. Es sind Silvias Augen, blau wie das wolkenlose Firmament. Silvia ist die Nachtblaue Fee, und ich bin Pinocchio. In ihrer Gegenwart fühle ich mich selbst in meinem Gipspanzer normal. Lächelnd kneife ich die Augen zusammen. Hastig zieht Silvia die Vorhänge zu, damit das Licht mich nicht stört.
»Hast du Durst?«
Die Frage kommt, noch ehe ich eine Verbindung zwischen meinem trockenen Mund und dem Hirn herstellen und eine entsprechende Bitte formulieren kann. Sie gießt mir ein Glas Ananassaft ein, den sie extra für mich gekauft hat. Mein Lieblingssaft. Ich kann einen Wunsch kaum aussprechen, da hat Silvia ihn schon erfüllt. Wenn sie nicht nur eine Freundin wäre, könnte ich sie vielleicht lieben.
Doch Liebe ist etwas anderes. Liebe lässt keinen Frieden. Liebe ist ruhelos. Liebe ist Potenzierung. Liebe ist schnell. Liebe ist morgen. Liebe ist ein Tsunami.
Liebe ist blutrot.
N iko kommt mich besuchen. Zuerst hält er den Blick gesenkt.
»Sorry, Leo, wegen gestern beim Spiel … stell dir vor, wenn du gestorben wärst … dann hättest du mich hier mit diesem Haufen Volltrottel allein gelassen … keine Piraten mehr, keine Nervenkitzel mehr, keine Musik mehr … Wehe, du machst noch mal so ’ nen Schwachsinn …«
Ich lächele. Bin glücklich. Ich habe Niko wiedergefunden. Nach dem Spiel hatten wir fast kein Wort gewechselt. Keiner von uns hatte Lust, sich zu entschuldigen. Er war dran. Mir ging’s schlecht und basta.
»Wie lange dauert’s?«
»Der Gips ungefähr einen Monat, zum Glück ist es ein glatter Bruch …«
»Gut, dann fehlst du ja nur ein Spiel. Hoffen wir mal, dass wir’s ohne dich packen.«
»Lass Stecco spielen. Dessen Füße sind zwar nicht besonders auf Zack, aber er bleibt dran. Du wirst wohl ein paar Überstunden machen müssen. Und außerdem ist das nächste Spiel total easy.«
»Aber ohne dich macht’s keinen Spaß, Pirat.«
Ich grinse.
»Wirst schon sehen, in null Komma nix bin ich wieder in Ordnung und dann holen wir uns den Pokal. Niemand kann die Piraten aufhalten, Niko, niemand … Und außerdem haben wir noch eine Rechnung mit dem Vandalen offen.«
Niko steht auf und nimmt Haltung ein, als erklänge die italienische Nationalhymne. Mit der Hand auf dem Herzen schmettert er los, und ich falle ein. Wir grölen so laut wir können. Als die Schwester hereinkommt, um nachzusehen, was los ist, prusten wir los.
»Wenn ihr beide nicht sofort ruhig seid, verpasse ich euch eine Vollnarkose! Nicht mal im Krankenhausbett kannst du Ruhe geben, was?!«
Niko sieht sie ernst und verzückt an.
»Willst du mich heiraten?«
Die Schwester bricht in ein entwaffnetes Lachen aus.
Seufzend dreht sich Niko nach mir um.
»Sie hat ja gesagt …«
D er Rest der Klasse kommt mich besuchen. Ich freue mich. Wer weiß, wieso es einem erst mal richtig dreckig gehen muss, um im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Manchmal im Leben möchte man etwas dermaßen Krasses machen, dass die anderen einen nicht mehr ignorieren können: in aller Munde sein. Vor allem dann, wenn man sich einsam fühlt und den anderen seine Einsamkeit vor die Füße spucken möchte. Dann stellt man sich vor, sich aus dem Fenster zu stürzen, damit all diese Arschgesichter kapieren, wie es einem geht und was es bedeutet, allein gelassen zu werden. Schmerz und Unglück scheinen das beste Mittel zu sein, damit sich die Welt um einen kümmert und einen liebt.
Sie haben mir meine Lieblingscomics mitgebracht. Silvia hat ein Bild für mich gemalt. Es ist klein. Es zeigt ein Boot auf blauer See, der Bug ist gen Horizont gerichtet, wo Himmel und Meer miteinander verschmelzen. Es sieht aus, als wäre es vom Boot aus gemalt. Ich habe es vor mir aufgehängt. Es leistet mir Gesellschaft, wenn ich allein in diesem Krankenzimmer bin. Es ist ein Zweierzimmer, aber bisher liege ich allein. Ein Glück. Es wäre mir irre peinlich, vor jemand anderem in die Ente zu pissen, und die Schwester steht daneben und hält sie … Einen Moment lang beneide ich Terminator, der keinerlei Probleme hat, vor Horden von Hunden und Philippinerinnen zu pinkeln. Hunde können noch nicht mal rot werden.
Niko hat mir eine CD mitgebracht. So habe ich was zu hören, das wir zusammen spielen können, wenn ich wieder auf den Beinen bin. Auch die anderen aus meiner Klasse haben mir was mitgebracht. Es ist schön, im Mittelpunkt der
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