Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
Freunde zu geben.« Nicht schlecht. Will ich mir merken. Ich stecke das Kreuz in den Umschlag. Wenn ich wieder in der Schule bin, muss ich es Gandalf zurückgeben, und außerdem ist es mir peinlich, mit einem Kruzifix rumzurennen: Das bringt Unglück.
I ch habe keinen Bock mehr, im Bett rumzuliegen. Ich habe keinen Bock mehr, zu sterben. Die Tage ziehen sich endlos hin. Es ist unbequem, und der eingegipste Arm juckt oft so heftig, dass ich ihn am liebsten abreißen würde. Die Minuten sind endlos. Die einzige Möglichkeit, sie zu füllen, ist nicht nachzudenken. Der Fernseher läuft dauernd, und das ist die beste Ablenkung. Denn wenn ich mich auf meinen Körper konzentriere, empfinde ich Schmerz, und wenn ich mich auf meine Gedanken konzentriere, empfinde ich noch mehr Schmerz. Wieso hat eigentlich der Schmerz beschlossen, mein bester Freund zu werden?
Der Träumer meint, ohne ihn können Träume nicht wahr werden, also ertrage ich ihn, aber ich könnte gut drauf verzichten. Es wird doch wohl einen leichteren Weg geben, um etwas umzusetzen … einen, der einen weniger fertigmacht … schon das Glotzen macht mich müde. Keine Ahnung warum, wo ich doch die ganze Zeit im Bett liege. Aber so ist es nun mal. Die Glotze macht müde. Alles eine Soße: eine einzige Vollnarkose. In der Glotze geht es entweder darum, dass Leute Geheimnisse haben, oder darum, wie die Leute reagieren, wenn ihre Geheimnisse herauskommen. Ich habe ein Geheimnis, aber das verrate ich bestimmt nicht dem Fernsehen.
Mein Geheimnis ist Beatrice.
S ilvia hat mich besucht. Sie hat mir ein Buch mitgebracht. Eines mit Erzählungen.
»Damit dir die Zeit nicht lang wird.«
Silvia ist wie die Brandung, sie ist immer da, auch wenn man sie nicht hört. Und wenn man ihr lauscht, wiegt sie einen in den Schlaf. Würde ich sie lieben, würde ich sie sofort heiraten, doch die Liebe ist nicht Brandung, sie ist Sturm. Ich frage sie nach Beatrice. Sie sagt, sie sei wieder im Krankenhaus. Zur zweiten Runde Chemotherapie.
»Sie ist hier, in diesem Krankenhaus.«
Ich fasse es nicht. Ich schlafe unter demselben Dach wie Beatrice und wusste es nicht. Die Nachricht macht mich völlig kribbelig vor Freude. Silvia gegenüber lasse ich nur wenig durchblicken, der Gedanke ist so schön, dass ich ihn allein auskosten möchte. Nachher will ich noch mal darauf zurückkommen, und außerdem muss ich noch etwas erledigen. Ach was, ich mach’s sofort.
»Wieso bringst du ihr nicht meinen Brief?«, frage ich Silvia.
Sie meint, das sei wohl nicht so gut, und sieht fast traurig zu Boden. Vielleicht hat sie recht. Während der Chemo schläft Beatrice viel, die Therapie nimmt sie total mit. Sie muss oft kotzen. Silvia traut sich nicht, zu ihr zu gehen und ihr einen Brief von jemand anderem zu geben. Vielleicht ist es nicht der richtige Moment. Wahrscheinlich hat Silvia recht.
Wir reden über die Schule. Erika-mit-K ist jetzt mit Luca zusammen. Sie sind unzertrennlich. Das merkwürdige ist, dass Erika-mit-K, die normalerweise gut ist, schon zweimal nicht vorbereitet war. Den Tag davor hat sie mit Luca verbracht. Luca hat noch nie viel gelernt und ist den ganzen Nachmittag mit Erika-mit-K unterwegs. Sie hängen die ganze Zeit ab und knutschen rum. Erika-mit-K meint, sie hätte gemerkt, dass Lernen im Grunde total unwichtig ist. Jetzt, wo sie die Liebe gefunden hat, hat alles andere weniger Gewicht. Nichts erfüllt einen so sehr wie die Liebe. Erika-mit-K hat recht, ich bin ganz ihrer Meinung. Ich sage zu Silvia, Glück bedeutet, ein verliebtes Herz zu haben. Sie stimmt zu, findet es allerdings seltsam, wie sehr man sich verändert, wenn man sich verliebt. Erika hat immer gelernt, wieso lässt sie es jetzt, wo sie verliebt ist, bleiben? Es scheint, als wäre sie eine x-beliebige Erika-mit-K geworden, als wäre sie nicht mehr sie selbst.
Wieso muss Silvia bei Themen, die mir klar wie Kloßbrühe erscheinen, immer mit ihren Spitzfindigkeiten kommen? Jetzt hat sie sogar meine felsenfeste Überzeugung übers Verliebtsein ins Wanken gebracht. Ich frage sie, ob sie jemals verliebt war. Silvia nickt und starrt auf ihre Fingerspitzen.
»In wen?«
»Das ist ein Geheimnis. Vielleicht erzähl ich’s dir eines Tages.«
»Okay, Silvia, ich respektiere deine Privacy, aber du sollst wissen, dass du immer auf mich zählen kannst, egal, was du für Geheimnisse hast.«
Silvia lächelt unsicher und erzählt mir dann von der Nicolosi. Die Nicolosi ist unsere Sportlehrerin. Sie ist um die fünfzig
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