Weiss
Abendessen auf der Panoramaterrasse in Riccardos Restaurant … Sekunden später hatte der Schlaf sie übermannt.
Sabrina Pianini schreckte hoch, als Glassplitter klirrten. Hatte sie das gehört oder nur geträumt? Das Geräusch kam aus dem Erdgeschoss, wo sich derzeit nur der Bodyguard aufhielt.
Sie stand auf, hüllte sich in das Handtuch und trat ans Terrassengeländer. Liliana, die ein langes, hochgeschlossenes schwarzes Kleid und ein Kopftuch trug, arbeitete trotz ihres hohen Alters bei der Hitze im Weinberg. Sie stützte sich auf ihre Harke und schien zu lauschen.
»Liliana, hast du etwas kaputtgemacht? Ich habe gehört, wie Glas geklirrt hat.«
»Das Geräusch kam aus dem Erdgeschoss. Piero ist nicht da, vielleicht ist Ihrem amerikanischen Freund etwas passiert.«
»Das ist nicht mein Freund«, erwiderte Sabrina Pianini. »Wärest du so lieb, kurz nachzuschauen, was geschehen ist, ich habe einfach keine Lust, mich erst anzuziehen.«
Sabrina Pianini nahm ihr Glas, holte sich Wein und kehrte auf die Terrasse zurück, die Sonne brannte wie eine Gasflamme, der Nordostwind brachte in der drückenden Hitze ein wenig Erleichterung. Sie fragte sich, wo sie so ein gutes Hausmeisterehepaar finden sollte, wenn Piero und Liliana es eines Tages nicht mehr schafften.
Als von Liliana nichts zu hören und zu sehen war, wurde Sabrina Pianini nervös und zog sich an. Sie ging zur Tür und griff nach dem Schlüssel, als plötzlich im Treppenhaus etwas laut und metallisch quietschte. Jemand stützte sich auf das verrostete Treppengeländer;Liliana war das nicht, sie hasste dieses Geräusch. Der Bodyguard, er musste das sein. Was war passiert? Gerade als sie im Begriff war, die Tür aufzuschließen, läuteten in ihrem Kopf die Alarmglocken. Warum war Liliana nicht in den Garten zurückgekommen? Sie ließ den Schlüssel los, rannte in den Flur, der zum Schlafzimmer führte, und kletterte auf den kippligen Blumentisch, dessen Beine unter der Last ihrer fünfzig Kilo wackelten. Durch das Fenster unterhalb der Decke konnte sie in den Treppenflur lugen und erschrak so sehr, dass sie um ein Haar heruntergefallen wäre. Ein Mann in einem grünen Schutzanzug mit Kapuze, Schutzbrille, Handschuhen, Stiefeln … Er stand vor der Tür und hielt in einer Hand eine Pistole, die ein durchsichtiger, am Ärmel festgeklebter Plastikbeutel schützte. Und der war mit Blut bespritzt. Ein Killer war hinter ihr her.
Der Mann drehte den Kopf. Jetzt erkannte Sabrina Pianini den Asiaten, sie hatten sich zweimal getroffen: Als der Vertrag über das Forschungsprojekt ausgearbeitet wurde, war er in Philadelphia gewesen, und im letzten Jahr zu Weihnachten war er mit einem Wissenschaftler zusammen nach Barga gekommen, um ihr einen Job anzubieten. Die linke Wange des Killers war blutig, und der zerrissene Atemschutz hing vom Ohr herab auf die Schulter.
Sabrina Pianini geriet in Panik, der Blumentisch kippte um, sie fiel herunter und verletzte sich das Knie. Der Killer zerrte schon an der Türklinke. Sie stand auf, nahm rasch ihr Handy und rannte auf die Terrasse – in ihrem Kopf war nur ein Gedanke: Sie musste fliehen, und zwar sofort! Der Höhenunterschied zum Hof betrug fünf Meter, es gab nur diesen Fluchtweg.
Sie packte mit beiden Händen die Zweige der Kletterrose, ließ sich über das Geländer fallen und spürte, wie die Dornen tief ins Fleisch drangen. Vor Schmerz kamen ihr die Tränen, sie biss sich auf die Lippen und versuchte vergeblich, sich mit den Füßen abzustützen. Blut strömte aus den Wunden, als sie mit einer Hand losließ und möglichst weit unten wieder zugriff. Doch nun bliebsie mit einem Bein in den Zweigen hängen, die Rosendornen gruben sich in ihren Unterschenkel, warmes Blut floss hinunter bis zum Fuß. Ihr entrang sich ein Schrei. Jetzt würde der Killer sie finden, hatte er schon die Tür aufgebrochen? Noch einmal musste sie den höllischen Schmerz ertragen und wieder zufassen, doch sie brauchte nicht lange zu überlegen, ob sie nun wagen sollte, sich fallen zu lassen: Der Zweig, an dem sie sich festhielt, rutschte ihr aus der Hand. Sie landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Pflaster, sprang auf und hielt sich die Hüfte.
Sabrina Pianini raste den Pfad im Weinberg hinunter, so schnell sie ihre Beine trugen. Sie riss das eiserne Tor auf, warf einen Blick zurück und stürmte weiter, als sie den Mann im grünen Anzug unterhalb der Terrasse sah. Der Asphalt der Via Zerboglio hinauf nach Alt-Barga brannte unter
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