Weiss
Klinke, hielt aber plötzlich inne. Was für einen Namen hatte er da eben gelesen? Er trat an seinen Schreibtisch, blätterte zurück und spürte plötzlich die schwere Last abscheulicher Erinnerungen, als er den Namen las, von dem er angenommen hatte, dass er ihm nie wieder begegnen würde – Viktor Hofman. Das war der Mann, der sich im vergangenen Jahr bei finnischen Unternehmen Erzeugnisse der Rüstungsindustrie beschafft hatte, um Marschflugkörper herzustellen, und der Leiter eines Forschungszentrums im sudanesischen El Obeid gewesen war, dessen »Produktentwicklung« zum Tod Hunderter sudanesischer Sklaven geführt hatte. Viktor Hofman, der Mann, der im Mai letzten Jahres lieber sich selbst erschossen hatte als ihn.
Kara schloss die Augen, als ihm einfiel, was Hofman kurz vor seinem Tode gesagt hatte:
Du weißt bei weitem nicht alles darüber, was im Oktober 1989 geschehen ist. Nichts über das Schicksal deiner Schwester und deiner Mutter, und über so gut wie alles andere auch nicht.
Hofmans Worte hatte er ganz bewusst in einer Kammer seines Gedächtnisses eingesperrt und verriegelt. Er tat alles, was in seinen Kräften stand, um nicht an die Ereignisse von 1989 zu denken, die quälten ihn ohnehin schon, er war Tag für Tag ihr Gefangener, rund um die Uhr. In wachem Zustand hatte er wegen einer damals erlittenen Kopfverletzung sein Verhalten nicht unter Kontrolle, nachts plagten ihn Alpträume, ausgelöst von dem, was vor mehr als zwanzig Jahren geschehen war. Er spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Rasch steckte er sich eine Dialar-Pille in den Mund, es würde eine Weile dauern, bis die Wirkung des Beruhigungsmittels einsetzte. Ein Epilepsiemedikament zur Behandlung der Frontalpsyche, einer Persönlichkeitsveränderung durch die Frontallappenverletzung, und eine Kapsel Exelon gegen die Gedächtnisstörungen wegen der Hirnverletzung nahm er früh und abends. Und dennoch fühlte er sich in den letzten Monaten immer schlechter.
Plötzlich ging die Tür auf und MG-Schnauze Anders Aasen trat ein. »Noch mehr Lektüre für den Abend, jetzt kommt am laufenden Band Post für dich.« Er strahlte übers ganze Gesicht, als er die Mappen in einer Zimmerecke fallen ließ. »Bei dir liegen wohl langsam die Nerven blank, dein Gesicht ist so rot wie die Eier von einem Ziegenbock.«
Kara rastete aus, er sprang auf und packte Aasen am Arm. Dann trat er die Tür auf und stieß den Norweger so unsanft hinaus, dass der über die Schwelle stolperte, stürzte und auf dem Flur gegen die Wand fiel. Kara schloss sich in seinem Zimmer ein. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihm klar wurde, was er getan hatte. Genau so lief das immer ab, wenn er die Selbstbeherrschung verlor: Zuerst trübte die Wut seinen Verstand und dann entlud sich der tief in ihm angestaute Hass, treffen konnte es jeden. Er verabscheute diese Ausbrüche, war aber seiner eigenen Impulsivität ausgeliefert.
Als er sich etwas beruhigt hatte, verließ er sein Zimmer, fuhrmit dem Aufzug ins Foyer hinunter und genoss den Wind im Verbindungsgang zum Haus D. Die Biergärten der Restaurants quollen über von Menschen. Es war zwar erst Mittag, aber Kara fand, dass er heute eher Schluss machen durfte.
***
Kara saß auf der Terrasse der Kneipe seiner Freundin Nadine Egger an der Ecke Prater- und Heinestraße und trank sein zweites Bier. Der leichte Wind und der Schatten einer alten Linde machten zusammen mit dem kühlen Bier die Hitze erträglich. Amüsiert beobachtete er die Choreographie seines Lieblingskellners Walter, der Gäste, die nach ihm riefen, mied und mit wütenden Gesten zu verstehen gab, dass er es eilig hatte. Er zog sich in die toten Winkel zurück, die von den Tischen draußen nicht eingesehen werden konnten, und gab knappe, trockene Bemerkungen von sich wie etwa: »Ich kann immer nur eins machen«. Die Wiener Kellner waren für ihre Unfreundlichkeit berühmt, und Walter galt als Galionsfigur seines Berufsstandes.
»Spargelsalat und Schweinsbraten in Milch«, rief Nadine, die aus dem Restaurant kam und zwei Teller und zwei Bierkrüge trug. »Es ist soviel Mittagessen da, dass es auch für uns reicht.«
»Hast du nie den Verdacht, dass ich mich bloß wegen des Essens und des Freibiers im ›Hansy‹ mit dir treffe?«, fragte Kara und grinste.
»Sollte bei mir so ein Verdacht aufkommen, dann werde ich es dir sofort in Rechnung stellen. Das Essen und Trinken meine ich«, erwiderte Nadine lachend. »Ich beköstige dich doch aus Mitleid, du kannst ja
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