Weiss
beantworten müssen. Am Morgen war sie mit dem Zug in Barga angekommen. Ihre innere Uhr hatte nach dem Flug und der Zeitverschiebung von sechs Stunden immer noch nicht den richtigen Rhythmus gefunden.
Sie zog den Sonnenschirm an den Liegestuhl heran, setzte sich auf das ausgebreitete Handtuch und hob das Glas mit einem Rotwein aus der Villa Elena an den Mund. Gott sei Dank hatten Liliana und Piero nach der Verschlechterung des Gesundheitszustands ihres Bruders den Weinanbau des Hauses weitergeführt. Nun war sie gespannt. Sie trank Pieros Wein jetzt das erste Mal, behutsam, mit wachen Sinnen. Und sie war überrascht. Der Wein schmeckte ein wenig anders, charaktervoller, vielleicht sogar besser als früher. Hatte Piero an der Feinabstimmung des Mischungsverhältnisses etwas geändert? Im Weinberg der Villa Elena wuchsen nur Trauben der Sorte Sangiovese, aber sie tauschten schon seit Jahrzehnten einen Teil ihrer Ernte gegen die Rebsorte Canaiolo des Nachbarn ein, um eine vollmundigere Mischung zu erzielen.
Von der Terrasse der Villa, die vierhundert Meter über dem Meeresspiegel lag, bot sich ein ungehinderter Blick auf das Tal des Flusses Serchio zu Füßen des fast zweitausend Meter hohen Pania della Croce. »
L’uomo morto
, der ›Tote Mann‹«, dachte Sabrina Pianini wie immer, wenn sie die Gestalt sah, die sich in der Silhouette der Berge abzeichnete und an einen auf dem Rücken liegenden Mann erinnerte. Der von der Natur geformte Pass, der den Monte Forato durchbrach, bildete den Mund des »Toten Mannes«. Manche Leute behaupteten, an einen schönen Anblick gewöhne man sich. So ein Unsinn! Das hier war ihre Landschaft, die Landschaft ihrer Familie und ihrer Vorfahren, schon seit Jahrhunderten. Sie empfand diesen Anblick als einen Teil von sich, der genauso wichtig war wie die Villa Elena, vielleicht sogar noch wichtiger.
Sabrina Pianini betrachtete den Apfelbaum, auf dessen Ästen sie als Kind mit ihrem Zwillingsbruder Guido zahllose Baumhäuser gebaut hatte. Sie waren einander stets sehr nah gewesen, fast unzertrennlich, vielleicht deshalb, weil der an einer angeborenen Niereninsuffizienz leidende Guido als Kind immer schmächtigund schüchtern wirkte. Sabrina hatte sich von Anfang an schuldig gefühlt, weil sie ein paar Minuten vor ihrem Bruder zur Welt gekommen war. Nach Ansicht der Ärzte lag es an ihrem Übereifer, dass Guidos Bein bei der Geburt Schaden nahm. Ein Leben lang hatte sie versucht, auf ihren kleinen Bruder aufzupassen, ihm zu helfen. Eine Last war das nur manchmal in ihrer Teenagerzeit gewesen, als das Aussehen und der Freundeskreis eine große Bedeutung besaßen. Ihr Verhältnis war etwas Besonderes, sie fühlten sich miteinander verwachsen. Manchmal schien es so, als könnten sie auch ohne Worte miteinander kommunizieren.
Ihre Augenlider fielen zu und sie musste an die Arbeit denken. Wer hätte vor ein paar Jahren geahnt, dass jenes Forschungsprojekt bei Acta, an dem sie damals arbeitete, ihr einen hochbezahlten Job an einer der renommiertesten Universitäten der Welt, in Philadelphia, einbringen würde. Acta war ein nicht gerade großes Chemieunternehmen in der Kleinstadt Lavoria, weit weg von den Metropolen der Welt. Für sie war die Lage jedoch perfekt gewesen: Die Entfernung zu den Bekleidungsgeschäften in Pisa betrug nur fünfzehn Kilometer, und vor allem waren es nach Barga und in die Villa Elena nur knapp hundert Kilometer. Als sie in Lavoria arbeitete, konnte sie sich selbst um ihren Bruder kümmern.
Sie wollte an der Penn, der Universität von Pennsylvania, noch etwa fünf Jahre hart arbeiten und in dieser Zeit finanziell unabhängig werden. Danach würde sie für immer nach Barga zurückkehren, Wein anbauen und, so Gott wollte, ihren Bruder betreuen. Die von ihr geleitete Forschungsarbeit wurde durch die DARPA finanziert, die für die Forschungsprojekte des US-Vertei digungsministeriums zuständig war, und sie hatte nicht die Absicht, bis ans Ende ihrer Tage Waffen für die Amerikaner zu entwickeln. Die Aufgabe der DARPA bestand schließlich in aller Bescheidenheit darin, die technologische Überlegenheit der US-Streitkräfte in der Welt aufrechtzuerhalten.
Die unangenehmen Gedanken verflüchtigten sich, als Sabrina Pianini die Augen einen Spalt öffnete und die Silhouette des »Toten Mannes« sah. Der bevorstehende Urlaubstag rückte in den Vordergrund: Sie freute sich auf die Wanderung zu den Bergen Tiglio Basso und Tiglio Alto, den Badeausflug zum Lago Santo, das lange
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