Weiss
Aktenschranks holte sie die wichtigsten Unterlagen zu Vilmas Fall, ein halbes Dutzend Hefter, und stopfte sie in einen Koffer.
Nach Vilmas Verschwinden war sie über einen Monat in Dubrovnik geblieben und hatte jeden Tag mit Anrufen Druck auf die Polizei, das kroatische Innenministerium und die finnische Botschaft in Kroatien ausgeübt und die Behörden ständig um Treffen gebeten. Doch man fand nichts über die Entführer Vilmas heraus, überhaupt nichts. Es schien so, als hätte sich das Mädchen in Luft aufgelöst. Schließlich hatte sie einen einheimischen Juristen angeheuert, die Behörden in Kroatien weiter auf Trab zu halten, und war selbst nach Finnland zurückgekehrt. Dieser Tag war der schwerste nach Vilmas Verschwinden gewesen; sie hatte ihre Abreise aus Kroatien so empfunden, als hätte sie das Handtuch in den Ring geworfen und Vilma aufgegeben.
Kati Soisalo buchte im Internet einen sauteuren Flug der Lufthansa über Frankfurt nach Belgrad, das war die einzige Alternative, wenn sie noch am selben Tag ankommen wollte. Dann rief sie die finnische Botschaft in Serbien an und konnte nach langem Warten mit einem Botschaftssekretär sprechen, der ihr zusagte, sich darum zu bemühen, dass die Touristen, die Vilma gesehenhatten, weiter in Belgrad blieben. Zum Schluss musste sie noch all ihre Termine in der folgenden Woche absagen, das dauerte etwa eine halbe Stunde, ein Glück, dass in den nächsten acht Tagen wenigstens keine Gerichtsverhandlungen anstanden.
Sie schloss die Tür ihrer Kanzlei ab und fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage. Wenig später steuerte sie ihr Zwergauto, einen zweisitzigen Smart Fortwo, auf die Tehtaankatu. Als sie das Restaurant »Mange sud« erblickte, den Nachfolger eines Lokals namens »Schiffshund«, fiel ihr ein, wie sie nach ihrer Rückkehr aus Dubrovnik verzweifelt vor der Wahrheit geflohen war. Anfangs hatte sie sich bemüht, ihren Schmerz in Schnaps zu ertränken, dann war sie auf der Couch von Psychotherapeuten in die Tiefen ihrer Seele eingetaucht und hatte geistliche Literatur und die Wahrheiten längst gestorbener Denker verschlungen, bis sie nahe daran war durchzudrehen. Schließlich hatte sie versucht, das, was sie tief in ihrem Inneren bedrängte, durch verbissene körperliche Schinderei zu verjagen. Die beim Krav-Maga-Training gebrochene Rippe zwang sie dann endlich, zur Ruhe zu kommen, und allmählich machte sie sich die finnischste aller Formen der Flucht vor dem Leben zu eigen – sie wurde zum Workaholic. Freilich vertrieb auch das nicht den Hass und die Trauer, nichts und niemand schaffte das. Sie hatte lernen müssen, mit ihnen zu leben und sie auszunutzen. Hass und Trauer hatten sie vorangetrieben wie die Peitsche eines Kutschers, sie gaben ihr Kraft.
In ihrer Wohnung in Herttoniemi packte Kati Soisalo den Koffer, holte aus dem Kühlschrank einen Becher Joghurt und blieb im Flur stehen, um zu überlegen, ob sie an alles Notwendige gedacht hatte. Ihr Blick fiel auf ein gerahmtes Foto von ihr und Vilma auf dem Telefontischchen. Sie nahm es in die Hand und betrachtete sich erst auf dem Foto, dann im Spiegel. War sie in drei Jahren so sehr gealtert? Falten hatten sich um die Augenwinkel und den Mund eingegraben, manche glichen einem ausgetrocknetenFlussbett, die straffen Brüste hatten ihre Elastizität verloren und ihr blonder kurzgeschnittener Haarschopf war nicht mehr so dicht. Ein schönes Gesicht und eine ziemlich gute Figur hatte sie wohl immer noch, sie zog weiterhin die Blicke der Männer auf sich, aber aus einem anderen Grund als früher: Eine ungeschminkte, gestresst wirkende Frau mit Jungenfrisur und in Hemd und Hose dürfte in den Augen der Männer eher bedrohlich wirken.
Kati Soisalo stellte das Foto wieder hin und erblickte eine Postkarte von UNICEF, die im Spiegelrahmen steckte und verkündete:
Stoppt den illegalen Kinderhandel
. Wie viele freiwillige, unbezahlte Arbeitsstunden hatte sie nach dem Verschwinden Vilmas in Projekten des Kinderschutzbundes, von »Entführte Kinder e. V.«, Amnesty International, ECPAT und UNICEF geleistet? Ob das nun Selbstquälerei war oder nicht, sie wollte Vilmas Schicksal nicht einmal für einen Augenblick vergessen. Es wäre ihr wie Verrat der übelsten Sorte vorgekommen, ein ganz normales Leben zu führen, während Vilma zur gleichen Zeit womöglich irgendetwas Grauenhaftes durchmachen musste.
Sie fühlte sich energiegeladen, die lange angestauten Gefühle wogten auf und ab, sie konnte es kaum erwarten, am
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