Weiss
ihren Fußsohlen, sie mobilisierte all ihre Kräfte. Zwar besaß sie eine gute Kondition, aber bis zur Carabinieri-Wache würde sie es keinesfalls schaffen, die Via Roma im neuen Teil von Barga war einen reichlichen Kilometer entfernt. Sie beschloss, zum Palazzo Pancrazi zu rennen, das Hauptquartier der Ortspolizei lag in der Altstadt. Auf der Via Zerboglio fuhren Autos an ihr vorbei, sollte sie eins anhalten, würde der Killer sie und auch den Fahrer erschießen? Sie schaute sich um und sah, wie der Mann durch das eiserne Tor auf die Straße trat.
Das Handy in der tiefen Tasche des Leinenkleids schlug ständig an ihren Oberschenkel. Ihr Tempo verlangsamte sich nur geringfügig, während sie den Polizeinotruf eintippte. Als sich nur der Anrufbeantworter meldete, trieb die Wut sie dazu an, noch schneller zu laufen.
»Überfall auf mein Haus, Via Sasso 18, mein Leibwächter und meine Haushälterin wurden vielleicht umgebracht … Ein Mann, Asiate, etwa eins neunzig groß … war letztes Weihnachten bei mir zu Hause in Barga und voriges Jahr in der Uni von Philadelphia, wo ich arbeite … Melden Sie sich bei meinem Bruder Guido …« Sabrina Pianini holte tief Luft und bog auf die Via Bellavista ein.
Plötzlich stoppte ein Kleintransporter mit quietschenden Reifen genau vor ihr, die Schiebetür rauschte auf und zwei Männer packten sie an den Armen. Sabrina Pianini konnte sich noch mit Händen und Füßen erbittert wehren, ehe die Injektionsnadel in ihre Ellbogenbeuge eindrang.
Man wollte sie lebendig haben.
2
Dienstag, 10. August
Leo Kara, der persönliche Assistent des UNODC-Generaldirek tors Gilbert Birou, trug einen meterhohen Aktenstapel, Pressesprecher Anders Aasen, den seine Kollegen nicht sehr schmeichelhaft MG-Schnauze nannten, folgte ihm auf dem Fuße. Alle, die ihnen auf dem Flur der zwölften Etage des Hauses E entgegenkamen, traten zur Seite. Die beiden schleppten den Papierberg zu Karas Zimmer. Die Unterlagen hatten Behörden verschiedener Staaten in den letzten Tagen einer neugegründeten Arbeitsgruppe des UNODC geschickt, die von Kara geleitet wurde und aus einer Person bestand. Kara lief der Schweiß über die Stirn, das war sein dritter August in Wien und mit Abstand der heißeste.
»Der ganze Stab sitzt in der klimatisierten dreizehnten Etage, nur Leo Kara nicht, der heißblütige Finne«, sagte der sommersprossige Aasen in seinem breiten Nynorsk und keuchte unter seiner Last. »Du bist doch wohl nicht so blöd, dass du freiwillig ein Zimmer hier in diesem Stockwerk wolltest?«
»Warum machst du nicht im August Urlaub wie alle anderen?«, fragte Kara. Allmählich hatte er von dem Norweger die Nase voll, alles, was der sagte, hörte sich so an, als wollte er ihn verarschen. Aasen suchte neuerdings ziemlich oft seine Gesellschaft, um ihn dann aufzuziehen.
»Was hat Birou gegen dich, warum hat er dich hierher beordert? Duschst du nicht oft genug?«, erwiderte Aasen lachend und setzte seinen Stapel auf Karas schon vollgepacktem Schreibtisch ab.
»Danke für die Hilfe«, sagte Kara und zeigte mit dem Finger zurTür. Als der Norweger verschwunden war, öffnete er die drei obersten Knöpfe seines Hemdes. Die Hitze war die Krönung: Unter allen Tieren war nur der Homo sapiens so dumm, sich an einem heißen Tag in vier Wände einzuschließen und etwas zu tun, was ihn nicht im Geringsten interessierte. Nach den Einsätzen in Afghanistan und Myanmar fiel es Kara noch schwerer, sich auf die Schreibtischarbeit zu konzentrieren.
Im Laufe des letzten Monats hatte jemand die Iridiumvorräte der Welt aufgekauft. Zwei Wissenschaftler, die Forschungsgruppen zum Thema Iridium leiteten, der eine in Oxford, der andere an der Sorbonne, waren entführt worden. Und die Ergebnisse von zwei Projekten der Iridium-Forschung waren in Rauch aufgegangen, bei einem Brand im holländischen Delft und bei einer Explosion im spanischen Toledo. Das war alles, was Kara wusste. Mehrere Staaten hatten Interpol gebeten herauszufinden, warum die Iridium-Forschung sabotiert wurde. Vom UNODC erhoffte man sich Hilfe bei der Entwicklung neuer Rechtsvorschriften und Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz wissenschaftlicher Forschungsprojekte. Kara setzte sich und schlug eine Mappe auf.
Unsere Arbeitsgruppe konnte auch die Existenz einiger bislang unbekannter Mischmetallstrukturen nachweisen, die durch Ruthenium- und Iridiumatome gebildet werden. Die über deren Aufbau gewonnenen Informationen können zur Vorhersage der Struktur derzeit
Weitere Kostenlose Bücher