Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weiss

Weiss

Titel: Weiss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
Vom Netzwerk:
ihnen an, dass sie zusammengehörten.
    Plötzlich bekam Sabrina Pianini einen Krampf im Bein, der so schmerzhaft war, dass sie zur Seite kippte und auf dem Bretterboden aufschlug.
    Kovel beugte sich über sie, griff nach ihrem Knie und dem Fußgelenk und streckte das Bein.
    »Sie haben mir Drogen gespritzt«, sagte Sabrina Pianini mit heiserer Stimme.
    »Wir müssen dir ein Medikament besorgen.«
    »Und ein Telefon«, fügte Sabrina Pianini hinzu.

11
    Freitag, 13. August
    Die Zimmertür in der siebenten Etage des Hotels »Vaakuna« in Helsinki ging auf, Leo Kara warf seine Tasche aufs Bett, holte die Flasche Linie heraus und nahm einen Schluck, obwohl er den Aquavit sonst nur eiskalt trank. Es ging ihm nicht gut, er konnte sich jetzt an immer mehr aus seiner Vergangenheit erinnern, das war schon zu viel.
    Jedes Mal, wenn er schlief, wurde der Alptraum wieder um ein Stück ergänzt, es schien so, als würde das Gehirn im Schlaf aus lange Zeit verschwundenen Erinnerungen eine lückenlose Vergangenheit zusammenflicken. Vor einer reichlichen Stunde war er im bis auf den letzten Platz besetzten Flugzeug vom eigenen lauten Rufen aufgewacht; eine proppenvolle Metallröhre, die keiner verlassen konnte, war ein besonders geeigneter Ort, um als Verrückter abgestempelt zu werden. Er spürte die Blicke der anderen Passagiere immer noch im Nacken. Dass man ihn anstarrte wie einen Idioten, daran konnte er sich nicht gewöhnen, am schlimmsten waren die mit Angst vermischten Blicke. Die führten dazu, dass er sich selbst für eigenartig und auch gefährlich hielt.
    Durch den Traum im Flugzeug hatte er sich an Einzelheiten des Schicksals seiner Schwester Emma erinnert, die dafür sorgten, dass er sich schämte. Plötzlich war er sich gar nicht mehr so sicher, ob er diesen Weg einschlagen sollte. Würde er die Wahrheit ertragen? Wäre es klüger, das Exelon nicht mehr einzunehmen, die Alpträume loszuwerden und so weiterzumachen wie früher? Auch diese Alternative war nicht gerade verlockend.
    Kara trat ans Fenster und begriff, dass er fast in demselben Zimmerstand, das er vor einem Jahr nach dem Tod seines Freundes Ewan Taylor mehrere Tage lang bewohnt hatte. Der Blick auf die City von Helsinki war ihm vertraut: das Einkaufscenter, das im Volksmund »Wursthaus« genannt wurde, das Kunstmuseum Ateneum, die Kaivokatu, der Bahnhof und der Platz daneben, der Elielinaukio. Er hatte in den letzten Monaten nicht sehr oft an Ewan und ihre gemeinsamen Jahre in der Internatsschule von Winchester gedacht. Die Knabenschule war das erste jener zahlreichen Gefängnisse gewesen, die er nach dem Oktober 1989 kennengelernt hatte. Später war er in Zellen sowohl in England als auch im Sudan und in Laos zu Gast gewesen, und in dem Gefängnis, das sich in seinem Kopf befand, saß er schon drei Jahrzehnte. Er musste lange überlegen, wann er das letzte Mal Ewans Witwe Helene oder sein Patenkind Oliver angerufen hatte, und fühlte sich gleich noch viel schlechter.
    Er trank einen Schluck, holte »The Economist« aus der Tasche und ließ sich aufs Bett fallen. Die Zeitschrift hatte er nur gekauft, weil ihr Thema das Jahr 1989 war, ein verrücktes Jahr, ein Jahr, das die Welt veränderte. Seine Welt hatte es jedenfalls tatsächlich verändert. Kara erinnerte sich nicht einmal an die Hälfte der bedeutenden Ereignisse jenes Jahres: den Fall der Berliner Mauer, die Demokratisierung der Ostblock-Länder, das Ende des Kalten Krieges, das Blutbad auf dem Tian’anmen in Peking, das gelungene Experiment mit einer kalten Fusion …
     
    Eine Stunde später verließ Kara das Hotel. Im Juli, auf dem Höhepunkt der Urlaubssaison, verwandelte sich Helsinki in eine Geisterstadt, aber nun, Mitte August, herrschte wieder ein geschäftiges Treiben, vor allem während der Rushhour am Nachmittag. Auf einer Leuchtreklame wechselten sich das Unicef-Plakat »Leb wohl Mutter« und die Werbung einer bei der Jugend beliebten Bekleidungskette ab, auf der junge Frauen im Bikini ihre Reize spielen ließen. Und wie immer flanierten im Park an der EsplanadiDutzende schöne Frauen, die er nie kennenlernen würde. Kara nahm den Weg über die Eteläranta, um das Meer zu sehen, der Anblick würde hoffentlich beruhigend auf ihn wirken.
    Ihm fielen die Ergebnisse von zwei Untersuchungen ein, die er kürzlich gelesen hatte. Demnach war Finnland das wohlhabendste Land der Welt, und Helsinki lag in einer Rangliste der angenehmsten Städte der Welt auf dem sechsten Platz. Dennoch stimmte hier

Weitere Kostenlose Bücher