Weiss
dass ich mich bei allen möglichen Behörden beschwert, an Zeitungen geschrieben und Interviews gegeben habe, bis wir Löffel erhielten und Wasserhähne. Vorher mussten wir mit den Fingern essen und zum Waschen das Wasser der Toilettenbecken nehmen.« Kovel lag auf der Seite und klärte sie über seine Vergangenheit auf. »1999 kam ich in das Gefängnis in der Wolodarskaja-Straße, nachdem ich in Minsk den ›Marsch der Freiheit‹ organisiert hatte. Als die Miliz ihn auflöste, wurden viele meiner Freunde verletzt. Im Jahr 2001 erhielt ich eine Geldstrafe in Höhe von einer Million Rubel wegen meines Artikels in der Zeitung ›Narodnaja Volja‹ über die Fälschung der Kommunalwahlergebnisse in Wizebsk«, erzählte Kovel und rieb sich den Bart. »Im Gefängnis Zhodzina bin ich gelandet, als ich auf einer Versammlung demonstrieren wollte, die Innenminister UladzimirNavumau organisiert hatte. Zhodzina war von allen das Schlimmste, oder jedenfalls die Wärter, die haben mir sogar den Bart mit Gewalt abrasiert.«
»Ist das alles in Weißrussland … üblich?« Sabrina Pianini wählte ihre Worte mit Bedacht.
»Ich könnte wetten, dass kein anderer weißrussischer Menschenrechtsaktivist genauso oft verhaftet, mit Geldstrafen belegt, verprügelt und ins Gefängnis gesteckt worden ist wie ich. Aber in diesem Land ist das üblich, dank Lukaschenko.«
»Kann ein Präsident wirklich für alle Missstände verantwortlich sein?«, fragte Sabrina Pianini. Als sie Kovels bestürzten Gesichtsausdruck sah, fügte sie um Wiedergutmachung bemüht hinzu: »Entschuldigung, ich weiß nichts über Weißrussland.«
Das wirkte auf Kovel so, als hätte sie Öl ins Feuer gegossen. »Weißrussland ist die letzte totale Diktatur in Europa. Lukaschenkos Administration kontrolliert sowohl die Politik und die Wirtschaft als auch die normalen Bürger und unterdrückt ihre politischen Gegner und jede Opposition. Sie behindert immer wieder die Arbeit der unabhängigen Presse, schließt Zeitungen der Opposition und bestraft jeden, der demonstriert oder überhaupt irgendeine Form gesellschaftlicher Aktivität an den Tag legt. Und Weißrussland ist auch der letzte Staat in Europa, der die Todesstrafe anwendet. Die Hinrichtungen sind geheim, die zum Tode Verurteilten und ihre Verwandten werden nicht vorher informiert, und die Angehörigen erfahren nicht einmal, wo die Hingerichteten begraben wurden.«
Sabrina Pianini wusste nicht, was sie sagen sollte, Kovel machte den Eindruck, als wäre er bei vollem Verstand, er dachte sich das wohl kaum alles aus, was er da erzählte.
»Weshalb haben sie dich verhaftet?«, fragte Aleh Kovel, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.
»Das weiß ich wirklich nicht. Man hat mich gegen meinen Willen hierher gebracht. Aus Italien.« Nach Kovels Schilderungenhielt Sabrina Pianini das, was ihr widerfahren war, nicht mehr für so unbegreiflich wie noch vor wenigen Stunden.
Kovel richtete sich auf und beugte sich zu Sabrina Pianini hin. »Wer hat dich entführt, wo wurdest du gefangen gehalten?«
»Keine Ahnung. Man hat mich in ein riesiges Forschungszentrum mitten im Wald gebracht, vielleicht zwanzig Kilometer von der Stelle entfernt, wo ich auf diesen Zug aufgesprungen bin.«
Kovel überlegte einen Augenblick. »Das muss das Institut in der Nähe von Osintorf sein.«
»Kennst du das, weißt du, was das ist?«
Kovel lachte kurz: »Das weiß niemand. Aber ich kannte während meines Militärdienstes vor langer Zeit ein paar Soldaten, die dort gewesen waren. Sie behaupteten, es sei ein geheimes Forschungsinstitut der Sowjetunion, angeblich hing es mit der Entwicklung neuer Waffen zusammen.«
Kovel saß wieder eine Weile in Gedanken versunken da. »An die Behörden solltest du dich auf keinen Fall wenden, wenn Polizei und Armee nach deinem Verschwinden alarmiert wurden und nach dir suchen, dann stecken die da mit drin. Vielleicht kann ich dir helfen, von Minsk nach Vilnius oder Warschau zu kommen, ich habe eine Aktie daran, dass viele Andersdenkende aus Weißrussland hinausgebracht werden konnten. Aber das würde möglicherweise ein paar Tage dauern. Du brauchst einen Pass und ein Visum.«
Sabrina Pianini lächelte das erste Mal seit ihrer Entführung. Sie dachte an Guido und erinnerte sich aus irgendeinem Grund an ihre Großeltern Alvaro und Claudia, die noch mit achtzig von der Terrasse der Villa Elena aus den Pania della Croce und den »Toten Mann« betrachtet hatten. Sie saßen einfach nur still da, und man sah
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