Weiss
erfahren. »Möchtest du sagen, wie?«
Das wollte Manas nicht. Je weniger den Plan kannten, desto weniger könnten ihn verraten, aber er erzählte es dennoch. Der detaillierte Bericht dauerte über zehn Minuten.
Rostow gelang es, zugleich überrascht und hoffnungsvoll dreinzuschauen. »Eine ziemlich … facettenreiche Strategie. Ich muss das erst mal einen Augenblick verarbeiten.«
Die Zeit gewährte Manas seinem alten Partner gern. Er verließ den Keller und das Forschungsinstitut und ging auf dem knirschenden Kies ein paar Dutzend Meter bis zu einer alten Bretterhütte. Als Stalin Anfang der fünfziger Jahre den Befehl zur Errichtung dieses Militär- und Forschungsstützpunktes gegeben hatte, gehörten Speicher aus Brettern noch zu solch einem Gebäudekomplex. Doch Manas verstand nicht, warum man die Hütte stehen gelassen hatte, als der Stützpunkt vor etwa zehn Jahren für die Zwecke von Mundus Novus saniert worden war.
Er zog die Schuhe aus, trat ein und heizte den Kanonenofen an, auf den er den Wasserkessel stellte. Das Zimmer war spartanisch eingerichtet: ein Feldbett, zwei Hocker, ein kleiner Tisch und Regale, zum größten Teil vollgestopft mit Büchern. Hätte Manas irgendwann Gäste in seine Hütte gelassen, dann wäre denen möglicherweise aufgefallen, dass es sich dabei fast ausschließlich um Sachbücher handelte, die alle entweder die Kriegsführung und damit zusammenhängende Themen, Militärgeschichte,Medizin, Psychologie, Psychiatrie oder den Kommunismus behandelten. Auf dem Tisch lag aufgeschlagen das Buch »Allahs Schwert: Khalid ibn al-Walid, Leben und Feldzüge« aus dem Jahr 1969, verfasst vom Generalleutnant der pakistanischen Armee A. I. Akram. Nur wer sich in der Militärgeschichte auskannte, wusste, dass Khalid ibn al-Walid einer der bedeutendsten Feldherrn der Weltgeschichte war, der Befehlshaber der Armee des Propheten Mohammed und seiner Nachfolger, der Eroberer Jerusalems, der in über hundert Schlachten sowohl gegen das Byzantinische Reich und Persien als auch gegen Syrien unbesiegt blieb.
Manas goss kochendes Wasser in einen Emaillebecher, rührte Teeblätter darunter und setzte sich auf das Feldbett. Das Werk von A. I. Akram musste noch warten. Andrej Rostows Gefühlszustand, sein Gesichtsausdruck und sein Tonfall waren in seinem Gedächtnis noch frisch, deshalb war das der geeignete Zeitpunkt, sich mit dem zu beschäftigen, was ihm besonders fremd war – Gefühle. Er besaß Dutzende anspruchsvolle Lehrbücher zu dem Thema, doch nur zwei Werke las er ab und zu: das Sachbuch des Hirnforschers Joseph E. LeDoux »Das emotionale Gehirn« und den Roman »David Copperfield« von Charles Dickens.
***
Die Wunde an der großen Zehe schmerzte und der Hunger nagte in ihrem Bauch, doch verglichen mit den Entzugserscheinungen waren das nur Kleinigkeiten. Sabrina Pianini hatte Muskelkrämpfe, zitterte und schwitzte und wurde in kurzen Abständen von Schüttelfrostattacken geplagt. Sie saß in einem Waggon eines weißrussischen Güterzugs auf dem harten Bretterboden und bemühte sich, ihrem Reisegefährten trotzdem zuzuhören. Der Zug ratterte und rumpelte so heftig, dass sie sich an den Metallstreben der Wände festhalten musste. Das Tempo war nicht gerade schwindelerregend. In dem Waggon stank es fast genauso widerlichwie in dem Versteck, in dem man sie aus Italien weggeschafft hatte. Jetzt befand sie sich zwar vorübergehend in Sicherheit, aber kein einziges ihrer Probleme war gelöst: Guido lag im Sterben, die weißrussischen Behörden machten Jagd auf sie, und sie hatte keine Ahnung, wie sie Hilfe erhalten sollte. Angst hatte sie immer noch, aber nicht vor Aleh Kovel, dem weißbärtigen Mann, der ihr in den Zug geholfen hatte.
Kovel trug ein blau-rot-weißes Hemd, das aussah wie ein traditionelles Kleidungsstück. Ohne jede Eile erzählte er ihr, was er alles hatte erleben müssen, seit er vor über zehn Jahren aus der weißrussischen Armee ausgeschieden und pensioniert worden war und angefangen hatte, sich der Schreckensherrschaft von Präsident Alexander Lukaschenko zu widersetzen. Er war aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen worden und politischer Gefangener gewesen, er hatte als oppositioneller Journalist gearbeitet, die Rechte weißrussischer Andersdenkender verteidigt und sich um seine Enkel gekümmert, und schließlich war er obdachlos geworden. Und die Geschichte ging noch weiter.
»Im Gefängnis in der Minsker Akrestsina-Straße waren die Bedingungen so entsetzlich,
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