Weiße Nächte, weites Land
starkes kleines Mädchen«, murmelte Veronica.
»Sie will trinken«, flüsterte Eleonora und beugte sich mit dem Kind zu ihrer Schwester, deren Atem nun wieder ruhiger ging, die aber die Lider geschlossen hielt. Ihr Gesicht wirkte wegen der Falte zwischen ihren Brauen nicht im mindesten entspannt. Eleonora hätte viel darum gegeben, ihre Gedanken lesen zu können. Ihr erstes Kind, das Kind von Matthias … Würde es ihre Schwester verändern? Würde es Christinas Weichheit, die sie meisterhaft zu verbergen vermochte, zum Vorschein bringen? Würde die Schwester die Verantwortung für dieses winzige Wesen übernehmen? Würde sie ihren Leichtsinn zugunsten dieses unschuldigen Wurms ablegen?
»Christina«, flüsterte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. »Dein Töchterchen hat Hunger.«
Christina mahlte mit den Zähnen, ohne die Augen zu öffnen. Sie schob das Kinn vor. Ein Ausdruck, den sie immer dann zeigte, wenn sie etwas sehr wollte – oder genauso entschieden nicht wollte.
»Nimm es weg«, presste sie hervor.
Eleonora zuckte zusammen. Veronica biss sich auf die Lippe.
»Du musst sie anlegen, Christina, deine Milch muss zum Fließen kommen«, beharrte Eleonora nicht weniger gutmütig als zuvor. Manche Mütter verhielten sich direkt nach der Geburt seltsam. Aber hier ging es nicht um Launen. Wenn das Kind in dieser Umgebung überleben sollte, musste es gestillt werden. Jetzt und für sehr lange Zeit.
»Ich habe keine Milch«, erwiderte Christina und öffnete endlich die Augen. Eleonora erschrak über den Ausdruck in ihnen. Er war kalt wie Frost.
»Jede Frau hat Milch. Du musst es versuchen, Christina. Wir helfen dir … Komm …«
Christina machte eine Bewegung mit der Hand, als wollte sie die Schwester verscheuchen. »Lass mich. Ich kann nicht.« Sie drehte sich auf die Seite, legte einen Arm quer über ihr Gesicht. Wenig später erkannten Eleonora und Veronica, dass sie eingeschlafen war. Gleichzeitig brüllte das Neugeborene so durchdringend, dass Eleonora es an Veronica weiterreichte, die es hin und her wiegte.
»Du hast noch nicht einmal einen Namen«, flüsterte Veronica und streichelte mit dem Knöchel des Zeigefingers die Wangen des Mädchens, dessen Kopf von rötlich blondem Flaum bedeckt war. »Und Hunger hast du, hm?«
Eleonora sah ihr hinterher, wie sie mit dem Kind auf dem Arm zum Lager ging, langsam und wiegend, und sie hörte, wie Veronica zu summen begann. Das Geschrei der Kleinen steigerte sich weiter, bis sie fast vergaß, Luft zu holen, und schließlich ging das Wehklagen in ein Wimmern über.
Veronica setzte sich an das Rad einer Kibitka, zog die Beine an, öffnete die Schnüre ihrer Kutte und ihre Bluse. Ohne darauf zu achten, ob sie irgendwer beobachtete, ohne zu fragen, ob es richtig war, was sie tat, holte sie mit einer routinierten Bewegung ihre linke Brust hervor und führte das Kind an die Brustwarze. Sofort begann es gierig zu saugen. Die Stille, die sich über das Lager und die improvisierte Geburtsstätte legte, hatte etwas Feierliches und wirkte gleichzeitig zerbrechlich wie hauchdünnes Glas.
Christina schnarchte leise, während Eleonora ihre Röcke raffte und zu Veronica lief. »Was tust du da, um Himmels willen?«, zischte sie. »Das Kind muss bei seiner Mutter trinken, sonst versiegt deren Milch.«
Veronica behielt ihr verklärt wirkendes Lächeln bei. »Wenn sie doch nicht will …« Ihre Stimme schien von weit her zu kommen. »Trink, mein kleiner Liebling, trink!«, flüsterte sie gurrend dem schmatzenden Säugling zu. »Alexandra wäre ein hübscher Name. Was meinst du, Eleonora? Alexandra würde passen, oder nicht? Frag deine Schwester, ob wir sie Alexandra nennen können.«
Eleonora massierte ihre Schläfe, weil sie plötzlich einen stechenden Schmerz fühlte. Sie schüttelte den Kopf, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Was ging hier vor? Das lief alles schrecklich falsch. »Es … es steht uns nicht zu, einen Namen zu suchen. Das ist Sache der Eltern. Christina und Matthias …«
Veronica hob das Kinn, die Brauen hochgezogen. »Wo ist er denn, der Vater? Er hat sein Kind noch nicht einmal begrüßt.«
Eleonora spähte verzagt nach rechts und links, aber von Matthias keine Spur. Wie konnte er nur Holz sammeln, Gras bündeln oder was immer er für unsinniges Zeug trieb in der Geburtsstunde seiner Tochter! Zumindest würde er dafür sorgen müssen, dass die Kleine getauft wurde. Hoffentlich gelang es ihm, noch vor dem Winter einen Pfarrer aus
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