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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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können. Andererseits waren die Menschen nach den endlosen Wochen auf der Ostsee und der Wolga die Ausdünstungen gewohnt. Der Gestank hatte sie vom ersten Tag an begleitet.
    Daniel hielt schnuppernd die Nase in die Luft. »Irgendwas merkwürdig Süßliches liegt in der Luft«, murmelte er. »Sophia hat recht.«
    Bernhard zuckte die Achseln und strich sich zwei Strähnen, die sich aus dem Lederband gelöst hatten, hinter die Ohren. »Vielleicht ist irgendwo in der Nähe ein Tier verendet. Wir werden es morgen finden, wenn wir auf Erkundung gehen.«
    Die bedrückte Stimmung der Kolonisten erstickte jede Freude und Zuversicht.
    Plötzlich zerriss ein gellender Schrei die Nacht, und die Gespräche verstummten. Alle Köpfe wandten sich in die Richtung, aus der er gekommen war.
    Christina stand breitbeinig, die verkrampften Hände wie Vogelkrallen vorgestreckt, und starrte mit vor Ekel verzerrtem Mund auf den Boden zu ihren Füßen, wo sich ein feuchter Fleck ausbreitete von der Flüssigkeit, die ihre Beine hinablief.
    Sofort sprangen Anja und Eleonora auf und liefen zu ihr. Ihnen folgte Veronica, die behutsam den Arm um Christina legte.
    »Es geht los«, presste Anja zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

    Eleonoras Knie gaben nach. Sie alle hatten gewusst, dass es irgendwann so weit sein würde, aber dass nun Christinas Kind in der ersten Nacht in der Steppe zur Welt kam, während noch keiner von ihnen den Schock verdaut hatte, schien ihre Kraft zu übersteigen.
    Glücklicherweise übernahm Anja das Kommando. Mit schroffen Worten wies sie ein paar Helfer an, in einiger Entfernung zum Lager eine Kuhle auszuheben und diese mit Decken zu füllen. Sofort erhoben sich drei, vier Männer, unter ihnen Matthias und Franz, und marschierten mit Spaten und Hacken los. Andere sollten zwei Feuerstellen links und rechts der Kuhle einrichten sowie in Kübeln Wasser aus dem Flüsschen holen und frische Leinentücher bereitlegen.
    Nein, eine Hebamme war Anja nicht, aber Eleonora war erleichtert, dass die Apothekerstochter ihre jahrelangen Erfahrungen mit Gebärenden zu nutzen wusste.
    An Sophias Geburt erinnerte sich Eleonora nur schemenhaft. Die qualvollen Stunden waren in einem Schleier aus Schmerz und Todesangst untergegangen, abgelöst erst von der unermesslichen Freude, als sie ihre nackte, mit Schleim und Blut verschmierte Tochter zum ersten Mal im Arm gehalten hatte.
    Bei Christina kamen bereits nach zwei Stunden die Wehen, ausgelöst durch den Fruchtblasensprung, in immer kürzeren Abständen. Sie jammerte und schrie, zwischendurch fluchte sie und schimpfte auf dieses Kind, das ihr solche Qualen verursachte.
    Mit dem Kopf lag sie in Veronicas Schoß, die ihre Stirn mit einem feuchten Lappen kühlte. Eleonora hielt ihre Hände und flüsterte ihr ermutigende Worte zu.
    Schließlich führte Anja sie zu der Kuhle, die die Männer für sie vorbereitet hatten und die weit genug weg lag, dass die Schreie der Gebärenden nur noch gedämpft zu den übrigen Kolonisten drangen. Dennoch hielten sich viele die Ohren zu und legten Decken und Kissen über die Köpfe der Kinder, damit sie aufhörten, Fragen zu stellen, und endlich einschliefen.
    Es dauerte bis zur Mittagsstunde des nächsten Tages, bis Christinas Pein ihren Höhepunkt erreichte, und Sekunden später klang wütendes Säuglingsgebrüll über die Steppe.
    In Schweiß gebadet, die Decken unter ihr nass von Blut, lag Christina schwer atmend in ihrem Steppenbett. Inzwischen hatten die Männer über ihrer Liegestatt ein provisorisches Zelt errichtet.
    Ihre Haare waren feucht verklebt, ihr Atem ging immer noch stoßweise. Dass die Nachgeburt aus ihr herausglitt, merkte sie nach der anstrengenden Geburt gar nicht. Anja arbeitete mit konzentrierter Miene, befreite Christinas Lager von Blutbrocken, Schleim und Gewebe und warf alles in einiger Entfernung in ein tiefes Loch, das sie noch in der Nacht die Männer hatte graben lassen. Jetzt winkte sie sie heran, damit sie es zuscharrten. Sie wusch Christina mit feuchtwarmen Lappen, wechselte die Felle und Decken unter ihr gegen frische und schickte Marliese, das Leinen im Bach zu waschen.
    Währenddessen beugten sich Veronica und Eleonora mit mütterlicher Anteilnahme über das Neugeborene, dessen Gesicht kirschrot und zu einer Grimasse verzogen war. Sie bestaunten die Hände, Mund und Nase und ließen keinen der Schaulustigen, die sich nun um sie gruppierten, zu nah an das stramm in weiche Tücher gewickelte Kind.
    »Was für ein

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