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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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zusammengeschoben. Männer wurden ausgeschickt, um das in der Nähe liegende Waldstück nach brauchbarem Holz zu durchforsten, das sie zum Bau von Häusern verwenden konnten. Aber die Männer kehrten mit verschlossenen Gesichtern zurück – das Waldstück war klein, die Fichten jung. Dort größere Flächen abzuholzen hätte Raubbau bedeutet. Außerdem fehlte ihnen das Werkzeug dafür. Aber herabgefallene Äste und Zweige und verdorrtes Gebüsch konnte man als Material für den Bau von Unterkünften heranschaffen.
    Der Leutnant der russischen Soldaten rief alle Kolonisten zusammen. Russisch-deutsch radebrechend erklärte er, dass sich bald Zimmerleute einfinden würden, die bereits von der Regierung beauftragt seien. Er versuchte die Kolonisten zu trösten und ermahnte sie zur Geduld.
    Schweigend und mit versteinerten Gesichtern begannen die meisten, sich aus der über die Wagen gespannten Leinwand Zelte zu errichten. Andere krochen für die erste Nacht unter die Kibitkas oder nutzten diese als Schlafstätte.
    Die Kinder, angeführt von Helmine, Klara und Sebastian, wurden angehalten, nach den Wildkirschenbüschen zu suchen, die sie auf dem Weg hierher allenthalben entdeckt hatten, und diese abzuernten, um die Früchte zu dörren. Zwar hatte jeder den Wagen voller Proviant, aber wer wusste schon, wie lange es dauern würde, bis sie Nachschub besorgen konnten.
    Die Abenddämmerung brach früh herein, und mit ihr kam die Kälte. Um die Feuerstellen, die die Kolonisten und ihr notdürftiges Lager in rotgoldenes Licht tauchten, setzten sich die Menschen in Gruppen zusammen, kauten auf dem Brot und spülten es mit dem Wodka hinunter, den sich die meisten in handlichen Fässern aus Saratow mitgebracht hatten.
    Matthias stocherte mit einem Stock in den Flammen herum, um das Feuer anzufachen. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Wie Bernhard, Anja, Daniel und Sebastian hatte er sich den Schaffellmantel, den sie alle in Saratow erworben hatten, um die Schultern gehängt. Bereits jetzt, im Oktober, drang die Kälte bis in die Knochen, und der Winter hatte noch nicht einmal begonnen.
    »Ich hab’ ein ungutes Gefühl, was die Zimmerleute betrifft«, sagte Matthias schließlich in das Schweigen hinein. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass die hier ihre Arbeit vor den ersten Frösten noch aufnehmen.«
    Daniel Meister, Bernhard und Anja nickten. Ganz offenbar sprach er nur aus, was sie selbst dachten.
    Sebastian blickte nacheinander fragend in die Gesichter der Erwachsenen. »Aber sie müssen kommen!«, rief er. »Wir müssen hier doch irgendwie leben. Wir erfrieren im Winter.«
    »Wir werden nicht erfrieren«, erwiderte Daniel. »Wir werden eine Lösung finden.« Er knuffte ihm gegen den Arm. »Mach dir keine Sorgen!«
    »Ich schlage vor, dass wir morgen zu einem Erkundungsritt aufbrechen«, erklärte Bernhard. »Wir brauchen einen Ort, an dem wir Lebensmittel bekommen – allzu lange hält der Proviant nicht vor. Und wir brauchen Menschen, die sich hier auskennen und uns sagen können, was wir zu unserem Schutz tun können.«
    »Gute Idee«, murmelte Anja und trank einen Schluck von dem Wasser, das sie über den offenen Flammen in einem Becher erhitzt und in das sie einen Schluck Wodka gegeben hatte, um sich innerlich zu wärmen.
    »Du bleibst hier«, bestimmte Bernhard und fuhr gleich fort, weil Anja zu einer heftigen Erwiderung ansetzte: »Hier im Lager wird jede Arbeitskraft gebraucht. Wir müssen das Gras mähen und bündeln, damit wir im Winter Futter für die Pferde haben, und ihr müsst Holz aus dem Waldstück holen, so viel ihr findet. Außerdem habe ich keine Ahnung, was uns draußen in der Steppe erwartet. Ihr habt die verstreuten Nomadenzelte gesehen – wer weiß, ob uns von Kalmücken Gefahr droht, aber Vorsicht ist auf jeden Fall ratsam.«
    »Und wonach wollen wir suchen?«, fragte Matthias. »Die Kolonistendörfer, die wir auf dem Weg hierher gesehen haben, kämpfen selbst ums Überleben. Die Menschen dort werden uns keine Hilfe sein.«
    »Hier muss es russische Dörfer geben. Menschen, die seit Generationen in dieser Landschaft leben und jeden Baum, jeden Strauch kennen. Sie werden wissen, was zu tun ist.«
    Von den anderen Feuerstellen drangen gemurmelte Gespräche herüber, einige Kinder weinten.
    »Hier stinkt es so!«, vernahmen alle Sophias helle Kleinmädchenstimme. Und tatsächlich war es schon einige Tage her, seit die Kolonisten sich hatten waschen oder die Kleidung wechseln

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