Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
Vom Netzwerk:
grauen Graslandschaft. Das linke, also östliche Wolga-Ufer wurde als Wiesenseite bezeichnet. Alljährlich im Frühjahr trat der Fluss über die Ufer, überschwemmte die Terrassen und verwandelte sie in eine Sumpflandschaft. Auch dort siedelten Deutsche, wie Daniel erfuhr, und die Waidbacher fragten sich, ob sie tatsächlich von Glück sagen konnten, auf der Bergseite ihrem Ziel entgegenzuwandern.
    Zweimal hielten sie zur Nacht und stellten die Wagen kreisförmig auf, um ein geschütztes Lager zu bilden.
    Gegen Mittag des dritten Tages hob einer der Anführer, der etwas Deutsch konnte, den Arm und rief. »Halt!«
    Alle Kolonisten erwachten aus der Benommenheit, die sie auf dem Weg durch diese öde Steppe ergriffen hatte, blickten sich um und entdeckten einen kleinen Fluss, dessen klares Wasser, munter über Felsbrocken springend, die Graswüste durchzog.
    Sie schauten sich an. Was sollte das? Für ein Nachtlager war es noch viel zu früh. Warum hielten sie hier an diesem Flüsschen?
    »Wir sind am Ziel!«, rief der Anführer und machte eine ausholende Bewegung mit beiden Armen, wobei er geschickt das Gleichgewicht im Sattel hielt. Er grinste von einem Ohr zum anderen, während die Kolonisten von ihren Pferden und Fuhrwerken stiegen und sich mit vor Schreck geweiteten Augen umschauten. Der schmale Fluss hier, in der Ferne ein Waldstück und sonst nichts als drei Fuß hohes verdorrtes Gras, über das raschelnd der Wind strich.
    Christina quälte sich aus dem Fuhrwerk, in dem sie die Fahrt weitgehend liegend verbracht hatte. »Ich bleibe hier nicht«, stieß sie tonlos hervor.
    Eleonora legte für einen Moment die Hand auf ihre Schulter, aber Christina stieß sie weg. Nichts und niemand konnte sie in diesem Moment darüber hinwegtrösten, dass das Paradies, von dem sie geträumt und geschwärmt hatte, in Wahrheit eine Wüste war, die nichts als graues, sich leicht in der Brise wiegendes Gras bot, so weit das Auge reichte.
    Was sollten sie hier? Wie sollten sie hier wohnen? Wo waren die Häuser, in denen sie ihr neues Leben beginnen sollten? Das konnte doch alles nur ein Alptraum sein …
    Helmine brach weinend zusammen, sank einfach auf die Knie mitten ins Gras und schlug die Hände vors Gesicht. Klara kniete sich neben sie, legte den Arm um die Ältere. Auch ihr liefen die Tränen über die Wangen.
    Matthias fluchte und folgte Daniel, der mit energischen Schritten, die Hände in die Seiten gestemmt, zu dem Anführer marschierte, um eine Erklärung zu verlangen. Aber all ihre Empörung, all ihr Zorn und ihre Enttäuschung verpufften ins Nichts und flogen mit dem Steppenwind davon.
    Marliese stützte sich auf Bernhards Schulter und murmelte unentwegt: »Das kann nicht sein, das kann nicht sein …«
    Einer freilich ließ sich von der allgemeinen Trauerstimmung nicht anstecken: Mit wedelndem Schwanz sprang Lambert aus dem Wagen, in dem Anja ihn die ganze Zeit über mitgenommen hatte. Er machte sich auf die Jagd nach einer Murmeltierfamilie, die in einiger Entfernung auf einem Hügel die Neuankömmlinge mit höhnischem Pfeifen begrüßt hatte. So schnell, wie sie erschienen waren, tauchten sie in ihren Löchern ab, als Lambert kläffend auf sie zusprang.
    Anja steckte zwei Finger in den Mund, um ihren Hund mit einem verunglückten müden Pfiff zurückzurufen. Er hörte nicht und sprang herum wie ein Fohlen auf der Frühlingswiese.
    Alfons lief ihm hinterher, warf die Arme in die Luft und gab glucksende und quiekende Laute von sich, die an das irre Lachen eines entfesselten Steppengeistes erinnerten.
    Anja ließ sich an der Stelle, wo sie stand, auf den Hintern fallen. Sie stützte die Ellenbogen auf die Knie und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare, während sie auf den sandig-bröseligen Boden stierte und der nach dem ersten Nachtfrost riechende Wind ihr ins Gesicht schnitt. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass sich Franz mit einem Ächzen dicht neben ihr niederließ. Sein Geruch nach Kwass, Knoblauch und Schweiß stieg ihr in die Nase, seine Pranke tätschelte plump ihre Schulter.
    Willkommen daheim.

    Die Enttäuschung steckte allen in den Knochen, doch während die einen erstarrten oder lamentierten, spuckten die anderen nach dem ersten Schock in die Hände und krempelten die Ärmel auf.
    Alles Jammern nützte nichts, sie würden sich hier einrichten müssen. Die Zeit drängte, denn ein Hauch des russischen Winters lag bereits in der Luft.
    Feuerstellen wurden errichtet, sämtliche Wagen zu einem Kreis

Weitere Kostenlose Bücher