Weiße Nächte, weites Land
nicht nur schreien konnte, bis die in der Nachbarschaft lungernden Wölfe Reißaus nahmen, sondern das auch Speckrollen an Armen und Beinen ansetzte und Pausbacken bekam.
Nacht für Nacht während dieses ersten Winters in der Steppe hatte Christina, eingezwängt zwischen der knochigen Schulter ihres Mannes auf der einen Seite und der aufgelösten schwarzen Haarmähne ihrer Schwester auf der anderen, zu dem Dach aus Zweigen und Blättern gestarrt und darum gebetet, sterben zu dürfen. Einfach die Augen zu schließen und nicht mehr aufzuwachen. Qualvoll hatten sich die Wintermonate hingezogen, eintönig, beengt, hoffnungslos. Gegen die Kälte half zwar der Herd, in dem Holz knisterte und knackte. Die Rauchentwicklung in der Behausung aber war an manchen Tagen kaum zu ertragen.
Sie hatten alle überlebt, wenn ihnen auch die getrockneten Fische – ihre Hauptnahrung – zum Hals heraushingen.
Doch wofür hatten sie gelitten und gekämpft?
Was sollte besser werden, als die Schneeschmelze eintrat und sie wie die Maulwürfe aus ihren Unterkünften in die Frühlingssonne lugten?
Die Trostlosigkeit des ersten russischen Winters hatte sich in Christina eingenistet wie ein wucherndes Geschwür. Sie verstand nicht, dass die anderen, wenn sie sich abends einen Schuss Wodka ins heiße Wasser kippten und warmes, knuspriges Brot herumreichten, scherzen, miteinander lachen und sich Geschichten erzählen konnten, wie es einmal sein würde hier in ihrer neuen Heimat.
Christina zog sich in sich selbst zurück wie ein Tier im Winterschlaf. Aber als die Schneedecke endlich zu schmelzen begann und sich die Flecken graubraunen Grases täglich vergrößerten, als die ersten gelben und roten Tulipane ihre Knospen aus der Erde steckten, als sich die Luft anfüllte mit dem Duft von wildem Majoran und Schafgarbe und die Vögel zu singen begannen, war der Lebenswille, der ihr Wesen stets geprägt hatte, wie eine winzige Flamme im Frühlingshauch wieder aufgeflackert.
Ganz sicher hing diese Hinwendung zum Leben mit dem jungen, kräftigen Russen zusammen, der zu der Truppe von Zimmerleuten gehörte, die – tatkräftig unterstützt von allen Kolonisten – gleich im März die Holzhütten errichteten.
Ein Ingenieur, der Kommandant des Arbeitstrupps, erteilte Anweisungen, wie das Land links des Flüsschens in Parzellen aufgeteilt werden sollte. Das Gebiet auf der rechten Seite wurde zu Wiesenland erklärt, das genau wie das Waldstück Gemeingut bleiben sollte.
Während die Männer hämmerten und sägten, Fuhrwerke mit Holz beluden und eine aus groben Stämmen bestehende Wand nach der nächsten aufrichteten und verankerten, warf Christina dem jungen Russen, der mit nacktem Oberkörper arbeitete und dabei im Licht der Märzsonne seine schweißglänzenden Muskeln spielen ließ, ständig auffordernde Blicke unter halbgesenkten Lidern zu, lächelte honigsüß und schwenkte den Rock, wann immer er mit einem Grinsen zu ihr spähte.
Worte waren nicht nötig – die Gesten der Liebeslust verstand man an jedem Ort der Welt. Wenn der Russe, nach dessen Namen sie nie gefragt hatte, in der Mulde hinter dem Steppenhügel mit harten Stößen in sie eindrang und seine Lippen auf ihren Hals drückte, hatte Christina das Gefühl, das Leben kehre in sie zurück.
Sein von schwarzen, struppigen Brauen beherrschtes Gesicht wusste sie, wenn er schließlich von ihr abließ, nicht zu deuten. War es Bewunderung, Verliebtheit oder doch eine Spur von Verachtung für die freizügige Deutsche, die ganz offensichtlich keine Hure war und dennoch bereitwillig die Röcke hob?
Auch seine kehlig hervorgestoßenen Worte verstand sie nicht, quittierte sie mit einem Lächeln und einem stummen Versprechen für den nächsten Abend.
Während das Dorf der Kolonisten in den Frühjahrsmonaten wuchs, holte sich Christina das, was sie in ihrer Ehe und in dieser Gemeinschaft mehr als alles andere vermisste, sie nahm es sich in den dämmerigen Abendstunden, wenn die Frauen der Kolonie auf dem offenen Feuer das Essen bereiteten und die Männer ihr Tagwerk begutachteten und Pläne besprachen.
Ein Lächeln umspielte Christinas Lippen, als sie sich nun auf dem Feld an den vor Manneskraft strotzenden Russen erinnerte. Sie fragte sich, ob sie nicht doch um seinen Namen hätte bitten sollen.
Nicht, dass sie ihn vermisste oder sich gar in ihn verliebt hätte, aber die körperliche Liebe fehlte ihr an der Seite ihres Holzklotzes von einem Mann so schmerzlich, wie sie es nie für möglich
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