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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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ihrem Körper, ihr Magen knurrte. Sie verspürte häufiger Hunger als die anderen. Aber das kannte sie aus der Zeit mit Frieda.
    Bei den Wagen war es menschenleer.
    Mit müden Schritten schlurfte Veronica zu ihrer Provianttasche, die sie unter dem Mantel aus Schaffell verborgen hatte. Sie seufzte, als sie feststellte, dass sie kein Brot mehr hatte. Nur ein paar trockene Brösel waren übrig, die sie mit dem angefeuchteten Zeigefinger der linken Hand aufklaubte und zum Mund führte.
    Sie richtete sich auf, griff unter den Kutschbock der Kibitka und öffnete den Deckel der Milchkanne. Vorsichtig trank sie direkt aus der Kanne ein paar Schlucke. Sie seufzte behaglich, als sie sie wieder zurückstellte, den Deckel schloss und sich mit dem Ärmel über den Mund fuhr.
    Ob Adam noch Brot hatte? Er aß nicht halb so viel wie sie – gut möglich, dass er seine Portionen bunkerte.
    Adams Sachen lagen ein Stück weit entfernt halb unter der Kutsche verborgen. Sie musste auf alle viere gehen, um an sein Bündel zu gelangen, das unter seinen Kleidungsstücken steckte. Sie schob ein Teil nach dem anderen weg, bis sie das mit einem Hanfseil straff umbundene Stück Leinen fand, in dem er offenbar seine Lebensmittel aufbewahrte. Er hatte es so stramm umwickelt, dass es sie Mühe kostete, die Verschnürung zu lösen, und sie ihre Zähne zu Hilfe nehmen musste. Dieser Kerl, ging es ihr durch den Sinn. Hat er etwa Sorge, jemand könne ihm sein hartes Brot und seinen Schinken stehlen? Sie war schließlich seine Frau, was ihm gehörte, gehörte auch ihr.
    Auf einmal stutzte sie. Ein Geruch entströmte dem Bündel, als hätte Adam hier verdorbenes Fleisch verpackt. Pfui Deibel, wer sollte das noch essen?
    Wütend schnürte sie das Bündel weiter auf und schnappte dann japsend nach Luft, weil der Geruch immer durchdringender wurde, scharf und widerlich süß und krank. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und schluckte ein ums andere Mal, um den Würgereiz zu unterdrücken. Immer wütender wurde sie auf ihren Mann, der die wertvollen Lebensmittel hier verrotten ließ.
    Die Verschnürung war inzwischen gelöst, und Veronica erhob sich, um Abstand zu diesem stinkenden Paket zu bekommen. Mit spitzen Fingern und den Füßen wickelte sie die Schichten von Leinen ab, trat dagegen und fluchte dabei vor sich hin.
    Endlich fiel der letzte Stoffrest. Veronica stupste den Inhalt mit der Fußspitze an – und im nächsten Augenblick gefror ihr das Blut. Sie griff sich an den Hals, ein unmenschliches Röcheln entfuhr ihrer Kehle. Sie starrte auf das blauschwarze Etwas, dessen Verwesungsgestank nun alles um sie herum zu vergiften schien.
    Lieber Gott, lass es nicht wahr sein!
    Gott, lass dies ein Alptraum sein!
    Ein Stöhnen entrang sich ihr, gefolgt von Würgen. Der Schmerz fraß sich rasend in ihr Herz und in ihre Eingeweide.
    Adam hat Frieda nicht der Wolga übergeben.
    Er hat sich nicht von ihr trennen können.
    Herr im Himmel, hilf mir!, flüsterte sie tonlos, bevor sie schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte.

    Alle, die zur Wagenburg drängten, verharrten fassungslos, flüsterten Gebete, bekreuzigten sich.
    Eleonora legte den Arm um Veronica, hielt sie fest, versuchte, ihr Kraft zu geben, und murmelte beruhigende Worte an ihrem Ohr. Die anderen, die tatenlos herumstanden, brüllte sie an: »Tut doch was, um Himmel willen!«
    Zwei besonders grobschlächtige Kolonisten, die, wie Eleonora wusste, als Metzger gearbeitet hatten, bevor sie hierher gekommen waren, um sich Erdhütten für den russischen Winter zu bauen, traten vor, wickelten die Tücher um die Reste des winzigen Leichnams und trugen ihn davon.
    Bernhard folgte ihnen mit einem Spaten, um das Grab für Frieda auszuheben.
    Doch da stürzte plötzlich Adam aus den Reihen.
    Eleonora fühlte ihre Finger auf Veronicas Schulter zittern, als er nun die Hände zu Fäusten ballte, die Schultern vorschob und sich auf die beiden Männer stürzen wollte.
    Doch Matthias, Franz und Daniel packten ihn mit vereinten Kräften und versuchten, ihn zu bändigen, während er wütete und schrie wie ein verwundeter Stier.
    »Lasst mir meine Tochter! Ihr habt kein Recht, sie mir wegzunehmen! Lasst mir mein Kind!«
    Aber gegen die drei kräftigen Männer war er machtlos. Er trat um sich und versuchte gezielte Faustschläge zu setzen, um sich zu befreien. In der nächsten Sekunde traf ihn Franz’ Hieb mit voller Wucht an der Schläfe, so dass er zu Boden ging und leblos liegen blieb.
    »Schafft

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