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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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einen lange vermissten Sohn.
    Wie gerne wäre auch sie auf ihn zugestürmt, hätte ihn umklammert, seinen Duft nach der Welt da draußen eingeatmet, seine Lippen mit den ihren berührt. Tausend Fragen brannten ihr auf der Seele nach seinem Leben, das er frei wie ein Vogel führte, während sie hier Wurzeln schlagen musste.
    Aber sie wusste, dass die Kraft ihrer Gefühle Daniel irritiert hätte. So schade, dass er seither immer nur wenige Tage blieb. Meist vergingen zwei bis drei Monate, bis er mit Neuigkeiten aus Saratow und anderen Städten wieder auftauchte.
    Was Matthias von ihr dachte, war ihr gleichgültig. So wie sie darauf pfiff, ob er sie bei ihrem heißen Liebesspiel mit dem Zimmermann beobachtete, so interessierte es sie auch nicht, was er von ihrer Beziehung zu Daniel hielt. Nichts kratzte sie, was Matthias betraf, und jeder wusste das.
    Ihre Ehe wurde mit offenem Misstrauen beobachtet: der tüchtige Bauer und sein schamloses Weib, dessen Mieder zu weit aufgeschnürt war und das sich einen feuchten Dreck um sein Kind scherte oder darum, etwas zur Gemeinschaft beizutragen.
    Christina stieß ein freudloses Lachen aus, richtete sich auf und zupfte sich ein paar Halme aus den Zöpfen, die aus ihrem Tuch hervorlugten. Die Erntehelfer hockten sich am Ende des Ackers zusammen, um das Mittagsmahl einzunehmen, das ihnen Helmine und eine von den neuen Kolonistenfrauen in Töpfen und auf Holztellern brachten. Das Klappern des Geschirrs, das leise Murmeln und Lachen trug der Steppenwind über das Feld zu Christina.
    Obwohl ihr Magen knurrte, verspürte sie nicht die geringste Lust, sich aufzurappeln und zu den anderen zu gesellen. Sie wollte in die entgegengesetzte Richtung. Und dann laufen und laufen, ohne anzuhalten, immer weiter, irgendwohin, wo es besser war.
    Was für ein lächerlicher Gedanke!, schimpfte sie sich selbst, während ihr Blick zu den in der Nähe des Wäldchens lagernden Nomaden ging, deren Zelte aus der Entfernung wie weißbraune Pilze aussahen. Kirgisen oder Kalmücken, die ihr Vieh hier weiden ließen und gewiss dafür verantwortlich waren, dass es immer wieder Verluste von Pferden in der Kolonie zu beklagen gab.
    Daniel hatte die Siedler eindringlich gewarnt: Sie sollten die Gefahr durch die Nomaden nicht unterschätzen. Die Kolonisten zu bestehlen hielten sie für ein einträgliches Geschäft, aber man höre auch von Übergriffen, bei denen Weiber und Kinder geraubt wurden, die man nie mehr sah. Christina hatte sich bei seinen finsteren Ermahnungen mit der Hand an den Hals gefasst.
    »Was können wir tun?«, hatte Bernhard Röhrich gefragt, der Flickschuster, den man unter dem wütenden Protest von Anton von Kersen gleich im ersten Frühjahr zum Vorsteher gewählt hatte.
    Daniel hatte erklärt, dass andere Kolonisten Gräben rund um die Dörfer gezogen und nachts bewaffnete Wachen aufgestellt hätten. Außerdem sei es möglich, Unterstützung von der Regierung anzufordern, aber das würde bedeuten, dass sie erneut die Anwesenheit und Kontrolle russischer Soldaten ertragen mussten, die sie im ersten Winter nur zu gern nach Saratow hatten ziehen sehen.
    Die Obersten des Dorfes, zu denen neben Bernhard und Matthias auch der ob dieses Ehrenamts leicht besänftigte Anton von Kersen als Schulmeister gehörte, hatten beschlossen, sich um die Sicherung der Kolonie zu kümmern, sobald die erste reiche Ernte eingefahren sei. Jetzt im Juli wurde jede Hand auf dem Acker gebraucht, aber im Herbst wollten sie mit dem Errichten von Gräben und Wällen beginnen. Noch deutete nichts darauf hin, dass die Nomaden einen Angriff planten – im Gegenteil, sie verkehrten sogar in der Kolonie und zeigten dabei beim Tausch von Schaffell und Kamelfleisch gegen Mehl und selbstgebrautes Bier ihr freundlichstes Gesicht. Kaum vorstellbar, dass diese umgänglichen Menschen sich in wilde Horden verwandeln sollten, die Weiber und Kinder fortschleppten und versklavten.
    Aber die Schauergeschichten hielten sich und ließen manchen nur noch mit dem Messer unter dem Kopfkissen einschlafen und bei jedem ungewohnten Geräusch in Mondnächten kerzengerade im Bett sitzen.
    An die ständig bestehende Gefahr durch Wildtiere – Wölfe und Bären – hatten sie sich rasch gewöhnt. Offenes Feuer in der Nacht hielt sie fern. Die Bedrohung durch Menschen aber war neu.
    In die Steppe hinauszumarschieren und der Kolonie den Rücken zu kehren, wie Christina es sich in der Mittagshitze ausmalte, wäre vermutlich die schlechteste aller

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