Weiße Nächte, weites Land
Sebastian auf ihn zugelaufen kam. Vor ihm blieb der Achtjährige abrupt stehen und verbiss sich die Tränen. Er wollte vor seinem Freund nicht weinen, aber der Abschiedsschmerz überwältigte ihn.
»Kommst du wirklich wieder?«, fragte er heiser.
»Ich verspreche es dir, Sebastian. Sobald der Schnee geschmolzen ist im März. Da auf den Hügeln kannst du nach mir Ausschau halten.« Er wies mit dem Kinn in Richtung der Anhöhe hinter dem Flüsschen.
Sebastian senkte den Kopf.
Der Ältere zog ihn an sich und drückte ihn, barg für einen Moment das Gesicht an der Schulter des Jungen, die nun zuckte, weil er die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. »Ich komme wieder«, flüsterte Daniel. »Du hast mein Wort als Freund.«
In dieser Nacht bezogen die Kolonisten ihre Erdhütten. Als sie am nächsten Morgen hervorkrochen, mussten sie Berge von Schnee wegschaufeln, bevor sie in das trübe Tageslicht blinzeln konnten.
Der russische Winter hatte begonnen.
Buch 3: Weites Land
1768 bis 1780
27. Kapitel
Kolonie Waidbach, Sommer 1768
C hristina wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und ließ die Schultern hängen. Die Mittagssonne brannte von einem weißblauen Himmel und ließ die Luft über dem Weizenfeld flirren. Grillen zirpten, Bienen und Mücken umschwirrten sie. Sie scheuchte sie weg und blies sich eine Locke aus der Stirn, die aus ihrem im Nacken geknoteten Kopftuch gerutscht war.
Sie ließ sich auf dem abgemähten Ackerland nieder, den Rücken gegen eine der Garben gelehnt, die sie gemeinsam mit den anderen Frauen der Kolonie in stumpfsinniger Eintönigkeit gebunden hatte, während die Männer vorneweg die Weizenhalme mit Sicheln und Sensen schnitten.
Die Ernte war in diesem Jahr ertragreicher als im letzten, denn diesmal hatten sie bereits im September den Winterweizen aussäen können, der dank der Feuchtigkeit der kühlen Monate und der Wärme des Frühlings prächtig gedieh.
Großzügig verteilte die russische Krone das Saatgut, mit dem die deutschen Kolonisten diese Wildnis in eine Kornkammer verwandeln sollten.
Für einen Moment schloss Christina die Augen, hielt das Gesicht in die sengende Sonne und hoffte inständig, dass deren Strahlen die traurigen Gedanken hinter ihrer Stirn vertrieben.
Sie hatte sich danach gesehnt, ein Paradies zu finden, aber sie war in einer Einöde gestrandet, die sie auch noch nach ihrem Heimatort Waidbach benannt hatten.
Tagaus, tagein musste sie sich in der Kolonie den Buckel krumm schuften und die schönsten Jahre ihres Lebens damit verbringen, sich Schwielen an den Händen zu holen. Abends zählte sie die Falten, die sich in ihr Gesicht gegraben hatten. Danach wälzte sie sich in ihrem Bett auf Stroh und grobem Leinen oben unter dem Dach der Holzhütte und träumte mit brennenden Augen davon, was anderswo auf der Welt – in Sankt Petersburg vielleicht – gerade passierte. Während sie den knisternden Stoff von Maschas blauem Kleid an ihre Wange drückte, stellte sie sich vor, wie Nikolaj die Damen der russischen Gesellschaft übers Tanzparkett wirbelte. Sie sah ihn vor sich, wie er ihnen mit rubinrotem Ungarwein aus goldverzierten Kelchen zuprostete und sich über ihre Spitzenhandschuhe beugte, um einen Kuss anzudeuten; wie er ihnen Neckereien in die mit Perlen geschmückten Ohren hauchte, um anschließend in lebensfrohes Lachen auszubrechen …
Während sie diese regenbogenbunten Bilder mit in den Schlaf nahm, hörte sie von unten aus der Kammer das Schnarchen ihres Mannes und das Wimmern aus dem Kinderbett. Manchmal drückte sie sich Kissen auf die Ohren, wenn die zermürbenden Geräusche in der Hütte das russische Streichquartett in ihren Träumen übertönten.
Seit Alexandra laufen konnte, hatte sie nachts ein paarmal versucht, die Stiege nach oben zu klettern, aber Christina hatte stets barsch reagiert und sie mit kalten Worten fortgeschickt, bis die Tochter es irgendwann seingelassen hatte und in ein penetrantes Wehklagen fiel, nicht laut, aber ausdauernd und nervtötend.
Wie bedauerlich, dachte Christina, dass sich die intensive Beziehung zwischen Alexandra und der Amme Veronica nicht über die Kleinkindzeit hinweg gehalten hatte.
Im ersten entsetzlichen Winter in der stinkenden, beengten Erdhütte hatte Veronica das Kind kaum von ihrem Schoß genommen, ihre Brust herausgeholt, wann immer es den Mund verzog, und mit ihrer fetten Milch dafür gesorgt, dass sich Alexandra zu einem kräftigen, kerngesunden Mädchen entwickelte, das
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