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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Ideen, ging es ihr durch den Sinn, während sie beobachtete, wie einer der Nomaden mit der Peitsche drei Kamele zurücktrieb, die sich zu weit von den Zelten entfernt hatten.
    Christina klopfte sich die Halme und die trockene Erde von Rock und Schürze, als sie plötzlich hinter sich eine helle Stimme hörte. »Mama! Mama!«
    Auf krummen Beinen stakste Alexandra auf sie zu, die Arme weit ausgestreckt.
    Christina blähte die Wangen und stieß die Luft aus.
    Schon wieder dieses Kind!
    Keiner der anderen Sprösslinge riss so oft aus der Kinderstube aus, die Veronica eingerichtet hatte. Fast ein Dutzend Kinder unter vier Jahren betreute sie inzwischen in der Scheune, während die Eltern ihrer Arbeit nachgingen.
    Auch Veronica gehörte zu denjenigen, die sich ihren Platz in der Dorfgemeinschaft errungen hatten. Es nötigte Christina Respekt ab, wie diese Frau es schaffte, dem harten Schicksal zu trotzen. Erst starb ihr einziges Kind, dann legte sich der Mann, mit dem sie hier eine Zukunft aufbauen wollte, selbst den Strick um den Hals … Inzwischen hatte sie, wie es schien, in Anton von Kersen einen ehrgeizigen Unterstützer und Förderer gefunden, und sie machte sich nicht nur als Betreuerin der Kinderschar unentbehrlich, sondern hatte sich inzwischen bei vielen Niederkünften und aus Büchern großes Wissen über Geburtshilfe zugelegt, so dass man sie in der Kolonie bereits als Hebamme behandelte, die ganz selbstverständlich gerufen und um Rat gefragt wurde, wann immer es um Schwangerschaften und Entbindungen ging.
    »Was suchst du hier?«, fuhr Christina das Mädchen an. »Scher dich zurück! Pack dich!«
    »Mama!« Alexandra stand vor ihr, hob die Arme. In ihrem Blick lag ein Flehen, das Christina gut kannte. Die rotblonden, dünnen Haare bedeckten flaumig ihren Kopf, in den blassgrauen Augen sammelten sich Tränen.
    Christina packte sie an den Schultern, drehte sie um und gab ihr einen Klaps auf den Rücken. »Ab jetzt. Mach, dass du zurückkommst! Spute dich!«
    Das Kind stolperte los. Christina folgte ihr in einigem Abstand, während sich die Kleine immer wieder umschaute. Christina wedelte mit der Hand, um sie zur Eile anzutreiben. Alexandra stolperte über eine Graswurzel, rappelte sich auf, ohne zu weinen, und lief weiter. Das Leben hatte sie gelehrt, dass niemand sie tröstete, wenn sie sich weh tat.
    Niemals hatte Christina diesem Kind Anlass gegeben zu glauben, es könnte mit Mutterliebe umhegt werden. Trotzdem wurde Alexandra nicht müde, ihr wie ein hungriges Kätzchen um die Beine zu streichen.
    Warum ließ sie nicht locker?
    Da war doch Veronica, die Alexandra jederzeit gern an ihren Busen drückte, wenn sie zu ihr stapfte.
    Da war Eleonora, deren Herz unerträglich groß und weich, deren Gemüt so sonnig war, dass sich ein Dutzend weiterer Kinder daran wärmen konnte.
    Und da war Matthias, der Alexandra hin und wieder auf den Schoß hob und ihr eines der Bilder zeigte, die er in den Abendstunden malte, oder mit ihr einen schön geformten Stein betrachtete.
    Wie ein Vögelchen im Nest hockte sie im Dorf, bekam satt zu essen, ein Bett und ein Dach über dem Kopf, und Spielkameraden tollten um sie herum.
    Dennoch zog es sie bei jeder Gelegenheit zur Mama, als wollte sie nicht dulden, dass ausgerechnet die Frau, die sie geboren hatte, sie zurückwies und links liegenließ.
    Irgendwann würde das aufhören.
    Irgendwann würde Alexandra merken, dass sie sich Zärtlichkeit und Zuneigung woanders holen musste.
    Christina hatte niemals Mutter sein wollen.
    Und sie hatte niemals ein solches Leben führen wollen.
    Eines Tages würde sie frei sein. Frei von allem, frei von jedem. Diesen Tag sehnte Christina mit jeder Faser ihres Herzens herbei.
    Für andere Gefühle war da kein Platz.

28. Kapitel
    L ass uns das versuchen, Bernhard! Das hört sich wunderbar und aufregend an.«
    Wunderbar und aufregend! Helmine drehte sich in ihrem Bett auf die andere Seite, die zerwühlten Laken klamm vom Nachtschweiß, das Stroh platt gelegen.
    Wann hörten die endlich auf, zu quasseln und sich auszumalen, was sie alles tun könnten, wenn nur erst dieses oder jenes passierte?
    Helmine war gezwungen, sich die Gespräche der Erwachsenen am Tisch anzuhören. Ihr Bett stand in einer Ecke hinter dem Ofen. Über ihr auf dem durch eine Stiege erreichbaren Boden unter dem Dach schlummerte Alfons, dessen feuchte Lippen beim Ausatmen schnatterten.
    Helmine zog sich die Decke über den Kopf. Zwar bemühten sich die Erwachsenen, leise zu

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