Weiße Nächte, weites Land
ihn hinter einen der Wagen!«, ordnete Bernhard an. »Und fesselt ihn an ein Rad.«
Während die Totengräber ihre Arbeit verrichteten, wurde Adams Körper aus der Wagenburg geschleift.
»Es ist vorbei, es ist vorbei«, murmelte Eleonora in Veronicas Haare und wiegte diese hin und her.
Veronica schluchzte inzwischen haltlos, ihr üppiger Körper bebte und zitterte.
»Lass mich nicht allein, Eleonora!«, flüsterte sie tränenerstickt.
»Ich lass dich nicht allein. Schlaf heute bei uns, und morgen … morgen stellen wir ein Kreuz für deine Tochter auf und legen Blumen auf ihr Grab. Jetzt hat sie ihre Ruhe gefunden.«
Veronica richtete sich auf und fuhr sich mit der Handfläche über die Nase. »Und sie ist bei mir. Hier, an unserem Ziel.«
Eleonora nickte und schluckte die Beklemmung hinunter. »Ja, sie ist hier, ganz in deiner Nähe.«
Als die Kolonisten am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang die Arbeit an den Erdhütten fortsetzen und vorab nach dem Gefesselten sehen wollten, fanden sie dort weder eine Spur von Adam noch von den Stricken, die ihn ans Wagenrad gebunden hatten.
Ein Suchtrupp wurde losgeschickt, der eine halbe Stunde später mit der Nachricht zurückkam, dass man Adam Mai gefunden habe.
Sein Körper baumelte erhängt im kalten Steppenwind an einem der kräftigeren Bäume des Waldstücks.
Sie hatten ihn gleich dort begraben.
Die Aufteilung der Erdwohnungen, die wenige Tage später fertiggestellt waren und zu denen noch weitere unterirdische Quartiere für die Ponys gekommen waren, gestaltete sich nach den ersten Absprachen weitgehend friedlich – die meisten wussten, wo sie hingehörten. Nur als Anton von Kersen sich ins Gespräch brachte, drohte ein Tumult, denn keiner war darauf erpicht, mit dem Vorsteher den Winter auf engstem Raum verbringen zu müssen.
Schließlich aber fand er in der größten Erdhütte bei Christina mit ihrer Tochter, Matthias, Eleonora, Sophia, Klara, Sebastian und Veronica ein Plätzchen, was hauptsächlich auf Veronicas Fürsprache zurückzuführen war. Von Kersen dankte ihr, indem er ihre schmutzige Hand nahm und einen Kuss darauf hauchte. Dass Veronica mit Christina unter einem Dach hauste, war auf praktische Erwägungen zurückzuführen – schließlich stillte sie nach wie vor alle zwei Stunden den Säugling.
Bernhard, Marliese, Helmine und Alfons nahmen außer Anja und ihrem Hund selbstredend auch Franz bei sich auf, obwohl Anja lautstark protestierte. Aber dass ein Mann zu seiner Frau gehörte, stellte niemand in Frage. Zu ihnen sollte sich außerdem Daniel Meister gesellen, aber der schüttelte den Kopf, als die Kolonisten begannen, sich in den Löchern so heimelig wie unter diesen Umständen möglich einzurichten.
Jetzt war also der Zeitpunkt gekommen, wo er es allen erzählen musste. Daniel hatte viele durchwachte Nächte darüber nachgedacht. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass es inzwischen so viel gab, was ihn mit diesen Leuten aus Hessen verband. Christina ließ er nicht gern zurück, obwohl sie ihm ferner war als jemals zuvor. Der Knecht Matthias Lorenz und der Flickschuster Bernhard Röhrich waren ihm zu Freunden geworden – eine Freundschaft, die tiefer ging als alle Bindungen, die er bisher eingegangen war. Es kam ihm vor, als hätten sie gemeinsam die Hölle überlebt. Nun verließ er sie.
Und es brach ihm fast das Herz, Sebastian zurückzulassen. Aber mitnehmen konnte er ihn nicht. Er wusste ja selbst noch nicht, was ihn in Saratow erwartete. Wie sollte er da die Verantwortung für ein Kind tragen?
»Ich hab’ nicht Amerika zugunsten Russlands getauscht, um am Ende in einem Loch zu überwintern. Davon abgesehen, tauge ich nicht als Bauer. Ich werde den Winter in Saratow verbringen und zusehen, dass ich Arbeit finde und Kontakte herstelle. Im Frühjahr bin ich wieder bei euch.«
Die anderen starrten auf ihre Füße, als er sich erklärte, und räusperten sich nun verlegen. Ob das nicht tatsächlich die bessere Alternative war? Aber zum einen achteten die Soldaten nach wie vor im Wechsel darauf, dass sich keiner dauerhaft entfernte, zum anderen … Dieses Stück Land hier gehörte ihnen. Es lag in ihrer Hand, daraus das Beste zu machen. Und waren sie nicht hierher gekommen, um sich eine eigene Existenz aufzubauen?
Wehmütig ließen sie Daniel ziehen, doch Sebastian lief zu ihm, als er sein Pony vor die Kibitka spannte und seine Sachen zusammenschnürte, um sie in der Kutsche zu verstauen.
Daniel ging in die Knie, als
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