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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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gehalten hätte. Diese ungestillte Sehnsucht in Verbindung mit Matthias’ manchmal spöttischem Grinsen trieb sie innerlich zur Weißglut.
    Wie sie ihn hasste, diesen Ackerknecht aus Waidbach, der sich in der Kolonie nun als Lehrmeister für alle aufspielte.
    Sie hörte seine tiefe Stimme weiter vorn auf dem Feld, wo er den Männern Anweisungen gab, wie sie die Sicheln zu halten hatten, und wo er den Frauen mit Eselsgeduld demonstrierte, wie sie die Halme zu Garben binden sollten, um sie zum Trocknen aufzustellen. Später würden sie die Garben aufs Fuhrwerk laden, das Korn dreschen und zu der kleinen Wassermühle bringen, wo ein Mahlstein seine Arbeit verrichtete.
    Der Ertrag reichte nicht, um mit dem Weizen Handel zu treiben, aber er deckte den Mehlbedarf der Kolonie, obwohl im vergangenen Sommer weitere Aussiedler zu ihnen gestoßen waren, so dass nun mehr als zweihundert Seelen zu der Kolonie Waidbach gehörten.
    »Christina, alles in Ordnung mit dir?«
    Die Honigstimme ihrer Schwester. Auch Eleonora schloss Christina in ihre gärende Wut auf alles und jeden an diesem verfluchten Ort mit ein. Eleonoras munteres, stets Zuversicht verbreitendes Wesen widerte sie an. Unerträglich, wie sie das Töchterchen verhätschelte, wie übereifrig sie sich in die Gemeinschaft einfügte und wie sie die Ärmel ihrer Bluse aufkrempelte, um vom ersten Licht des Tages bis zum Sonnenuntergang zu rackern.
    Christina richtete sich auf und machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung ihrer Schwester, die in einiger Entfernung bei den anderen Erntehelfern stand, die schwarzen Haare unter dem Tuch verborgen, die Hand gegen das Sonnenlicht über den Augen.
    »Ich komme gleich!«, rief Christina. »Nur eine kurze Pause.« Sie lehnte sich wieder zurück gegen die stechenden Halme. Schuftet doch, bis ihr tot umfallt!, dachte sie, während sie sich die Nasenwurzel mit Daumen und Mittelfinger massierte. Tanzt ihr nur alle nach der Pfeife des Ackerknechts …
    Matthias hatte wie alle anderen seinen Platz in der Gemeinschaft gefunden. Niemand stellte seine Anweisungen bei der Aussaat und der Ernte des Weizens in Frage.
    Christina erinnerte sich mit Schaudern daran, wie alle geächzt und gestöhnt hatten, damals nach dem ersten Winter, als sie begonnen hatten, den steinharten Boden mit Pflügen zu bearbeiten. Die russische Krone hatte ihnen Pferde und Rinder gestellt, aber keines der Nutztiere war je vor einen Pflug gespannt worden, und so mussten die Kolonisten selbst ziehen und zerren und im Schweiße ihres Angesichts die Steppe in Ackerland verwandeln, bis sie am Abend jeden Knochen, jeden Muskel, jede Sehne in ihrem zermarterten Körper spürten und zu schwach waren, um noch den Löffel in die Krautsuppe zu tunken und den Becher für den Kwass zu halten. Aber sie hatten die Zähne zusammengebissen und hatten am nächsten Morgen wieder parat gestanden, um das Werk voranzutreiben.
    Und wofür das alles? Um die untere Grenze des Lebensstandards zu erreichen, den sie in Hessen aufgegeben hatten.
    Warum verzweifelte keiner außer ihr über dieser Erkenntnis?
    Woher nahmen alle jeden Morgen die Kraft, dort weiterzumachen, wo sie am Vorabend aufgehört hatten?
    Was ist mit euren Träumen?, wollte sie manchmal schreien. Was wollt ihr eigentlich erreichen?
    Aber sie schwieg und blieb allein mit diesen Fragen, auf die sie keine Antwort fand.
    Der Einzige, dem sie sich noch nah fühlte, war Daniel Meister.
    Er hatte Wort gehalten und war zurückgekehrt, als die Zimmerleute ihre Arbeit aufnahmen. Christina hallte jetzt noch Sebastians Jubelschrei in den Ohren. »Da kommt er, da kommt Meister Daniel!« Tagelang hatte der Junge von der Anhöhe in Richtung Saratow gespäht, in der verkrüppelten Hand ein Stück Fichtenholz, in der gesunden ein Schnitzmesser, mit düsterer Miene und angewinkelten Beinen. Endlich war er aufgesprungen, hatte Holz und Schnitzmesser fallen lassen und mit den verkümmerten Fingern der linken Hand in die Richtung gewiesen, wo man in weiter Ferne das sonnenblonde Haar Daniels leuchten sah, während das Kalmückenpony ihn zu den Kolonisten trug.
    Christina hatte Sebastian um seine Unbekümmertheit beneidet, als er mit fliegenden Beinen und rudernden Armen die Anhöhe hinabgestürzt und gerannt war, als ginge es um sein Leben, das Gesicht ein einziges Strahlen, die Rufe hell und mit vor Glück sich überschlagender Stimme.
    Als er nahe genug heran war, sprang Daniel vom Pony, breitete die Arme aus und umarmte den Jungen wie

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