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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Klappergestell in der Küche ihres Hauses in Waidbach gestanden hatte. In den letzten beiden Jahren hatte er sich zu einem Mann entwickelt, der sie nicht nur um fast zwei Köpfe überragte, sondern der auch erschreckend an Masse zugelegt hatte. Mit den ungepflegten Haaren, dem wuchernden Bart, den muskelbepackten Armen und stämmigen Beinen sah er aus wie ein aus den russischen Wäldern entlaufener Bär. Mit seinen Pranken vermochte er junge Bäume aus dem Forst ganz allein zu entwurzeln, um sie im Laufschritt auf der Schulter ins Dorf zu schaffen. Er tat dies mit einem Eifer und einer Ausdauer, dass sich manch einer fragte, wie viel Menschliches denn noch an diesem Hünen mit dem ständig offen stehenden Mund und den schief stehenden Augen war, der nichts als brabbelnde Laute von sich geben konnte und dessen Gesicht sich zur schauerlichen Fratze verzog, wann immer er sich über ein Lob oder ein Schulterklopfen freute.
    Nein, Alfons war nicht mehr der armselige Tropf, dem Helmine ungestraft einen ihrer gemeinen Streiche spielen konnte. Sie malte sich lieber nicht aus, wozu Alfons imstande wäre, wenn er glaubte, sich an ihr rächen zu müssen.
    Insgeheim hoffte sie, dass er sich bei einem seiner zahlreichen Streifzüge durch die Steppe eines Tages verlaufen würde und entweder von Nomaden verschleppt wurde oder einem hungrigen Rudel Wölfe begegnete.
    Einmal hatte sie geglaubt, am Ziel ihres sündigen Wunsches zu sein. Alfons war seit den frühen Morgenstunden unterwegs und fehlte ganz gegen seine Gewohnheit an der Mittagstafel. Der geordnete Tagesablauf war ihm heilig, und gefräßig war er dazu. Wenn er nicht zum Essenfassen erschien, um sich seine Portion abzuholen, konnte das nur bedeuten, dass er davon abgehalten wurde. Freiwillig bliebe er niemals fern.
    Während die anderen raunend beratschlagten, rieb sich Helmine die Hände und grinste versteckt. Sie schickte ein Gebet zum Himmel, Alfons möge endgültig von seinen irdischen Qualen erlöst werden, aber ihre scheinheilige Fürbitte wurde nicht erhört, denn noch vor Sonnenuntergang tauchte Alfons wieder auf.
    Neben ihm schlurften drei russische Bauern, die ihn seitlich stützten, obwohl er keine Hilfe brauchte, und die ihn mit so tiefer Verehrung und Ehrfurcht behandelten, dass Helmine mutmaßte, sie könnten Alfons an Geistesstärke noch unterlegen sein.
    Mit andächtiger Miene führten sie ihn in die Mitte der Kolonisten, bekreuzigten sich und verneigten sich vor ihm. Dann sprachen sie ein paar Worte mit Daniel, der gerade im Dorf weilte, bevor sie, zum Gruß nickend, die Siedlung wieder verließen.
    Zunächst einmal lärmten und jubelten die anderen. Von allen Seiten tätschelten sie Alfons den Rücken, und Marliese umarmte den massigen Leib ihres Sohnes, da sie zu klein gewachsen war, um höher zu gelangen.
    »Freunde funden«, brabbelte Alfons mit glücklich entstellter Miene. »Freunde funden.« Er fuchtelte in Richtung der davonziehenden Russen.
    Daniel verschränkte die Arme vor der Brust, nickte Alfons wohlwollend zu und wandte sich an die anderen, die ihn mit Fragen bestürmten. Was denn die Russen erzählt und warum sie Alfons wie den Sohn Gottes behandelt hätten. Zwar sprachen alle inzwischen ein paar Brocken Russisch, um sich im Alltag zu verständigen, aber nur der Zeugmacher redete inzwischen fast fließend.
    Auf Helmine wirkte der weltgewandte Daniel stets einschüchternd, obwohl nichts Großspuriges an ihm war.
    »Die drei Bauern haben Alfons mitten in der Steppe aufgelesen, wo er über einem verendeten jungen Wolf kniete und betete. Er weinte und wiegte sich vor und zurück, während er das Gesicht zum Himmel reckte und, wie die Russen beteuerten, mit Gott sprach.«
    »Und das fanden sie bewundernswert?«, rief Matthias skeptisch. »Ein Wolf weniger ist doch kein Grund zum Jammern, sondern zur Freude … Verstehe ich nicht.«
    Daniel hob eine Hand. »Es geht nicht um den Wolf. Bei den Russen gibt es eine lange Tradition der Gottesnarren. Vielleicht hat der eine oder andere von euch davon schon mal gehört.« Die Zuhörer ließen die Mundwinkel hängen und schüttelten den Kopf. »Selbst der zornigste Russe wird sanft, wenn er einen Schwachsinnigen wie unseren Alfons trifft. Sie glauben, diese Menschen seien von Gott ausgewählte Narren, die die Wahrheit sprechen. Obwohl sie nicht verstanden haben, was Alfons da gebrabbelt hat – ihnen erschien er wie ein vom Herrn Auserwählter, der den Tod eines Gottesgeschöpfes beweint. Um sich den

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