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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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als ein Aufschneider und Großmaul.«
    Zunächst schien er losspringen zu wollen wie eine in die Enge getriebene Ratte, dann aber fiel er in sich zusammen, die Schultern sackten nach vorn, die Mundwinkel fielen herab. »Diese Reise hat uns alle verändert.«
    Ein Hauch von Mitleid flog Anja an, wie er da verloren und struppig vor ihr stand und bettelte. Worum bloß? Wohl nicht um Liebe …
    »Ich habe dich schätzen und … lieben gelernt«, gestand er da. »Ich weiß, dass ich nach dem, was ich dir angetan habe, deine Verachtung verdiene, aber Anja … Es ist über ein Jahr her. Willst du mir nicht verzeihen und mich als deinen Ehemann annehmen?«
    Anja klappte der Mund auf. Einen Wimpernschlag lang kam ihr in den Sinn, die Stunde habe nun geschlagen, ihm alles heimzuzahlen. Auszuspucken und hohnzulachen und mit dem Finger auf ihn zu zeigen. Aber zu ihrer eigenen Verwunderung wog ihr Mitgefühl auf einmal schwerer als die Verachtung. »Ich … ich verstehe nicht.« Sie hob die Hände und ließ sie kraftlos wieder sinken. »Ich bin keine andere als vor einem Jahr. Mein Brandmal leuchtet weithin sichtbar. Ich bin immer noch nicht die Frau, um die dich deine Kumpane beneiden.«
    Franz schluckte und wischte sich mit der Hand über den Mund. »Ja, das ist wohl so«, sagte er schließlich. »Aber ich weiß jetzt viel mehr über dich. Keine lacht so ansteckend wie du. Keine kämpft wie du, wenn sie ein Unrecht bemerkt. Ich habe gesehen, wie zärtlich du sein kannst, zu deinem Hund, zu Bernhard …« Er straffte die Schultern. »Du bist einzigartig, Anja, und es würde mich mit Stolz erfüllen, wenn du die Meine wärst.«
    Franz’ Ansprache stürzte Anja in tiefe Verwirrung, aber an ihren Gefühlen änderte sich nichts. »Es ist zu spät, Franz. In meinen Plänen spielst du keine Rolle. Gewiss wirst du es überwinden.«
    Mit Sack und Pack und munter trällernd zog Anja bei den Webers ein, und Franz stapfte, sein Bündel gebuckelt, zu der armseligen Hütte, die am weitesten entfernt in Richtung Forst lag. Eine winzige Behausung, die ursprünglich als Unterstand für den Viehhirten errichtet worden war. Franz mauerte sich einen Ofen, zimmerte sich ein Bett, und wenige Tage später zog die erste Rauchfahne aus seiner Hütte über die Steppe, während die Fensterläden und die Tür geschlossen blieben, als hätte er sich eigenhändig eingekerkert.
    Anja war es recht so, aber sie wusste, dass sich Matthias Lorenz um den Bruder sorgte. Nun, sollte er sich darum kümmern, dass Franz wieder Freude am Leben fand. Sie fühlte sich weder für sein Pech noch für sein Glück in der Pflicht.

    Ob Franz geahnt hatte, dass es nicht zutraf, als sie behauptete, sie habe sich nicht verändert? Vielleicht. Wie sehr sie Bernhard Röhrich schätzte, war kaum einem entgangen.
    Zum ersten Mal erlebte Anja das Glück, gemeinsam mit einem geliebten Menschen Pläne zu schmieden. Blind würde sie Bernhard dahin folgen, wo immer es ihn hinzog. Und sie wäre dabei die glücklichste Frau unter der Sonne Russlands – ob mit oder ohne eigene Apotheke.
    »Hast du … hast du wirklich Angst um mich, wenn ich dich begleite?«, wagte sie zu fragen, während Bernhard in die Flammen starrte.
    Er wandte sich ihr zu, zog die Brauen hoch. »Ja, natürlich, nur aus diesem Grund will ich dich nicht mitnehmen.«
    Anja senkte das Kinn, gestattete sich ein Lächeln, bevor sie wieder aufsah. »Erzähl mir mehr von dieser Kolonie. Alles, was du weißt.«
    Bernhard schmunzelte. »Von den Herrnhuter Brüdern können wir viel lernen. Ihre Erfahrungen und ihr Wissen sind Gold wert für den Aufbau unserer eigenen Kolonie.«
    Das Dorf der Brüder war vor drei Jahren gegründet worden. Genau wie die Waidbacher litten die gläubigen Kolonisten unter den anfänglich katastrophalen Bedingungen, aber auch sie kämpften sich durch, und dieser Tage galt ihr Dorf am Bach Sarpa, der von Westen in die Wolga mündete, als leuchtendes Vorbild für all die anderen deutschen Kolonien in der russischen Steppe. Während sich die Waidbacher vornehmlich von der Landvergabe und den Zuwendungen der Zarin hatten anlocken lassen, erhofften sich die Brüder ein religiös geprägtes Leben fern von Verfolgung und Anfeindung.
    Von ihren mannigfaltigen Erfahrungen mit dem Ackerbau in diesem Landstrich konnten alle Kolonien profitieren. Die Brüder studierten die Klimaverhältnisse genauestens, wussten, dass das Wetter im April, Mai und Anfang Juni dem mitteleuropäischen ähnelte. Was man in

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