Weiße Nächte, weites Land
reden, um sie nicht zu stören, aber sobald es die geringste Meinungsverschiedenheit gab, schwoll die Lautstärke an wie das Zischen eines Wasserkessels.
Ihr Bruder Bernhard bewohnte als Vorsteher immerhin die größte Hütte, aber eine eigene Kammer für Helmine gab es nicht. Wahrscheinlich sollte sie dankbar sein für diese Bettstatt hinterm Herd nach dem gruseligen Winter in der Maulwurfswohnung.
Lange hatte sie die Hoffnung gehegt, am Ende nur mit ihrem Bruder Bernhard das Ziel zu erreichen – welch hohes Ansehen hätte sie als Schwester des Vorstehers genossen!
Ihre Mutter war doch auf dem besten Weg gewesen, sich zu Tode zu saufen! Und was machte die Alte? Schlotterte und quasselte im Fieberwahn tagelang, um hinterher aufzuwachen, nach Wasser zu verlangen und nie mehr nach Schnaps zu fragen. Niemals hätte Helmine ihr diese Kraft zugetraut, aber darauf, dass die Tochter ihr dafür Anerkennung zollen würde, konnte die Mutter lange warten.
Nein, Helmine würde ihr nie verzeihen, was sie ihr angetan hatte, seit sie denken konnte. Viel besser als zu der Zeit, als sie noch gesoffen hatte wie ein Loch und durch den Hofmorast getorkelt war, sah ihre Mutter auch heute nicht aus. Die grauen Haare standen ihr fusselig vom Kopf, die meisten Zähne hatte sie verloren, der Mund war verhutzelt und faltig gleich einem Kraterloch. Die Jahre an der Flasche hatten ihre Spuren hinterlassen.
Wie Darmwinde stank die Verachtung, wenn die anderen hinter Marlieses Rücken tuschelten.
Was sollte das jetzt mit dieser Plantage, von der die Mutter faselte und deren Aufbau sie ach so wunderbar und aufregend fand?
Sie flüsterten und zischelten nun wieder, Bernhard, Matthias Lorenz, Anton von Kersen, ihre Mutter und Apothekerstochter Anja, die Helmines Bruder, warum auch immer, gern dazuholte, wenn die Obersten der Kolonie tagten.
»Ich gebe Marliese recht«, sagte da Matthias. »Wir müssen für die kommenden Jahre planen. Auf lange Sicht reichen unsere Erträge hinten und vorne nicht. Wir müssen Handel treiben. Die Produktion von Seide erscheint mir lohnend. In Saratow rennen wir bei den Fabrikanten offene Türen ein.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie man Seide gewinnt«, gestand Anja Eyring. »Braucht man dafür nicht Raupen?«
Matthias erklärte es ihr: »Der erste Schritt ist die Anpflanzung von Maulbeerbäumen. Von den Blättern ernähren sich die Seidenraupen, die man darauf züchtet. Irgendwann verpuppen sie sich, und aus dem Kokon zieht man den Seidenfaden. Ganz einfach eigentlich.«
Was für Hirngespinste!, dachte Helmine. Als würde ihre Mutter es schaffen, ein solch langfristig angelegtes Projekt zu leiten. Wann hatte sie jemals bewiesen, dass irgendwelche anderen Fähigkeiten in ihr schlummerten, als sich um den Fuselvorrat zu kümmern?
Zum Glück hatte sie bereits in Hessen die Küche und das Kochen Helmine überlassen. Sie redete ihr nicht drein und ließ sie machen. In der neuen Heimat kamen Helmine die Kenntnisse am Herd zupass. So war sie von der Feldarbeit befreit, wenn sie sich um die Versorgung der Erntehelfer kümmerte. Das tat sie nur zu gern.
Besondere Anerkennung bekam sie für den Kwass, den sie aus Roggenbrot, Hefe und Zucker herstellte. Je nachdem, was Matthias, der die besten Kontakte nach Saratow pflegte, mitbrachte, probierte sie Johannisbeeren, Rosinen oder Minze aus, um den Geschmack zu verändern und zu verfeinern. Die Dörfler lobten sie für ihre Phantasie und ihre geschickten Hände. Das schäumende, auf der Zunge prickelnde, säuerliche Brotbier galt besonders in den Sommermonaten als köstlicher Durstlöscher.
Helmines Verhältnis zu Alfons hatte sich in den zwei Jahren, die sie nun in Russland lebten, merklich verändert. Nicht etwa, dass Helmine ihre geschwisterliche Zuneigung für ihn entdeckt hätte. Nein, ihre Feindseligkeit gegenüber dem Schwachkopf war eher noch gewachsen, aber dazu hatte sich ein anderes, nicht weniger stark ausgeprägtes Gefühl gesellt: Angst.
Seit sie ihn damals in Lübeck ins Boot gesetzt und wissentlich einem ungewissen Schicksal überlassen hatte und seit Alfons erlebt hatte, mit welcher Häme sie die Mutter behandelte, verfolgten seine Blicke sie hasserfüllt.
Wann immer sie es nicht vermeiden konnte, sich in Alfons’ Nähe aufzuhalten, stierte er sie an, als wollte er sie mit den Augen versengen. Und Alfons war nicht mehr der schlaksige Junge mit den mageren Armen und dürren Beinen, der im viel zu weiten Nachtgewand wie ein
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