Weiße Nächte, weites Land
Zorn des Allmächtigen nicht zuzuziehen – möglicherweise haben sie den Wolf selbst getötet –, eiferten sie darum, Gott milde zu stimmen, indem sie sich um Alfons kümmerten.«
Ungläubiges Lachen erklang im Umkreis. »Ganz schön verrückt, diese Russen«, sprach Sebastian laut die Gedanken der meisten aus, und Helmine dachte: Das hat mir noch gefehlt, dass dem Hohlkopf ein Denkmal errichtet wird.
Wenn ihr nur der Bruder und die Mutter nicht täglich aufs Gemüt schlagen würden, hätte sich Helmine in dem wachsenden Dorf durchaus wohl fühlen können. Natürlich, es war nicht der Garten Eden, den sie alle sich erhofft hatten.
Aber sie besaßen hier Land, viel Land, sie verfügten über hinreichend Geld, und die täglichen Pflichten erfüllten Helmine genau wie die meisten anderen mit Befriedigung.
Es gab hier Menschen, die sie mochte, die sie sogar als ihre Freunde bezeichnete. Klara natürlich, die jüngste der Weber-Schwestern, die sich seit einigen Monaten ganz der Aufzucht und Pflege des Nutzviehs widmete. Sie kümmerte sich nicht nur um die trächtige Kuh, die Ziegen und die Ponys, sondern hatte zudem begonnen, Geflügel zu züchten. Dummerweise lockten die zahlreichen Tiere besonders Alfons an. Wann immer es Helmine in den Sinn kam, die Freundin zu besuchen, traf sie den Bruder bei ihr, der mit Hingabe die Zicklein striegelte oder mit verklärtem Gesicht die frisch geschlüpften Küken in den Händen barg und die Nase an deren Flaum rieb.
Sie mochte auch die älteren Weber-Schwestern, besonders Christina, die viel lustiger erzählen konnte als ihre Schwester Eleonora.
Und sie mochte die Gruppe junger, irgendwie zornig wirkender Männer, die sich allabendlich mit Fackeln und Wodka oben auf der Anhöhe traf – angeblich, um Wache zu halten, aber Helmine wusste, dass die Dörfler trotzdem noch eigene Leute abstellten. Die fünf Jungen waren nur zwei, drei Jahre älter als Helmine, und sie sorgten an manchem Abend für Aufregung im Dorf, wenn sie laut krakeelten, wie einfältig sie die Russen fänden und was sie alles zu tun gedächten, wenn sie einen dabei erwischten, wie er ein Pferd stahl.
Helmine wusste, dass die fünf ihr Leben hier verfluchten – und die russische Zarin gleich mit. Manchmal zweifelte sie, auf welcher Seite sie stand – einerseits imponierte ihr das Aufrührerische der jungen Männer, andererseits sehnte sie sich nach Beständigkeit.
Ganz gewiss aber wusste sie, dass der Bandenführer – Gregor – ein besonders Hübscher war.
Wann immer sie an ihn dachte, kribbelte es köstlich in ihrem Leib, viel stärker als damals auf dem Wolga-Schiff, als der junge Russe sie lachend um die Taille gefasst und aus dem Beiboot an Deck gehoben hatte.
Diese blütenzarten Gefühle trugen erheblich dazu bei, dass Helmine in Wahrheit nicht so missvergnügt war, wie ihre Miene es ausdrückte, wann immer sie im Kreise ihrer Anverwandten hockte. Irgendwann, das wusste sie genau, irgendwann würde sie diese Familie hinter sich lassen und eine eigene gründen.
Und alles würde gut sein.
Weil der Schlaf sich immer noch nicht einstellen wollte und die Versammelten sich immer noch die Köpfe heißredeten, warf Helmine die Decke von sich, stand auf und schlich im Nachthemd auf Zehenspitzen zu dem Schubladentisch an der Hintertür. Dort stand der Wodka, von dem sich Bernhard hin und wieder am Abend ein Glas voll genehmigte. Auch sie hatte ihn probiert und nach dem ersten Schütteln festgestellt, dass er sich vorzüglich als Schlafmittel eignete, wann immer sie unausgegorene Gedanken und Gram nicht zur Ruhe kommen ließen.
Sie goss sich den bereitstehenden Becher halb voll und leerte ihn in einem Zug. Heiß und brennend rann der Wodka ihre Kehle hinab, sickerte in ihren Magen und sandte wohlige Schauer in Bauch und Brust. Sie seufzte behaglich, sog tief die Luft ein und schlich zurück ins Bett. Ein paar Atemzüge später würden sich eine angenehme Schwere in ihren Gliedern und Müdigkeit ausbreiten, bis die Lider zufielen.
In geringen Maßen genossen, wirkt Schnaps wie Medizin, dachte Helmine, als sie mit einem selbstzufriedenen Lächeln die Augen schloss. Nur Pech, wenn man saufgierig wie die Mutter war, die es so weit getrieben hatte, dass der nächste Schluck ihr Todesurteil bedeutet hätte.
»Nimm mich mit, Bernhard! Ein einziges Mal! Ach, bitte, ich möchte diese Kolonie so gern kennenlernen. Du hast mir viel erzählt – aber ich möchte sie selbst sehen!«
Bernhard warf ein
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