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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Möglichkeit, alles Grässliche, Abscheuliche aus der Vergangenheit hinter uns zu lassen und einen Neubeginn zu wagen. Nimm Mutter diese Chance nicht! Und dir selbst auch nicht … Gewiss findest du bald einen lieben Mann, mit dem du deine eigene Familie gründen kannst. Und Mutter … Sie ist zurückgekommen und hat ein neues Lebensziel gefunden. Jeden Tag ackert sie von morgens bis abends auf ihrer Plantage, hegt und pflegt die Maulbeerpflanzen … Wenn wir zusammenhalten, Helmine, wenn wir das wirklich schaffen … Dann wird vielleicht alles gut. Es ist noch nicht zu spät.«
    Für einen Moment legte Helmine die Wange an seine Brust, fühlte das kratzige Leinen seines Gewandes, roch die Erde und den Schweiß an seinem Körper. Sie wusste nicht, was sie denken und fühlen sollte. Der Aufruhr in ihr hatte sich gelegt.
    Bernhard nahm ihr Gesicht in beide Hände, zwang sie, ihn anzusehen. »Versprichst du mir, dass du über meine Worte nachdenken wirst?«
    Sie nickte.
    »Lass uns jetzt heimgehen!« Bernhard seufzte schwer. »Hast du gesehen, wo Alfons hingelaufen ist? Hoffentlich kommt er bald zurück. Du kannst dich darauf verlassen, dass ich ihn mir vorknöpfen werde …« Bernhards Zähne knirschten.
    Mit einer abrupten Bewegung löste sich Helmine von ihrem Bruder. Von ihrer Begegnung mit Alfons in der Scheune wusste er bislang nur die Hälfte. »Aber … er ist nicht weggelaufen! Gregor kam dazu und hat ihn niedergeschlagen. Er liegt bewusstlos in der Scheune. Hoffentlich. Vielleicht ist er aufgewacht und hat sich davongestohlen …«
    »Verdammt«, zischte Bernhard, griff nach seinem Spaten, schulterte ihn und setzte sich im Laufschritt in Bewegung.
    Helmine folgte ihm mit wehenden Röcken.
    Sie fanden Alfons in der Scheune, den Kopf in einer roten Lache. An Schläfe, Kinn und Hals klebte trockenes Blut. Sein Blick war starr zur Decke gerichtet, die breite Zunge zwischen den Lippen.
    Helmine schlug sich eine Hand vor den Mund, während sie die Fackel, die Bernhard vor dem Haus entzündet hatte, in der anderen hochhielt.
    Bernhard kniete sich nieder, aber für Alfons kam jede Hilfe zu spät. Für einen Moment legte Bernhard die Stirn auf die Brust des Bruders. Es sah aus, als wollte er weinen, aber dann richtete er sich wieder auf. Mit einer zärtlichen Geste schloss er dem Toten die Lider und faltete seine Hände auf der Brust.
    »Wirst du … Muss Gregor … Ich meine …« Helmines Stimme klang belegt, während sie stammelte und keinen klaren Gedanken fassen konnte. Zwar hatte sie sich kurz zuvor noch gewünscht, Alfons möge niemals mehr wieder aufstehen, doch ihn nun hier liegen zu sehen, leblos und steif wie ein erschlagener Bär, ging ihr näher, als sie vermutet hätte.
    Bernhard richtete sich auf, das Gesicht unbeweglich, und schüttelte den Kopf. »Sorg dich nicht um Gregor«, sagte er mit tiefem Ernst. »Er hat getan, was jeder Mann in seiner Situation getan hätte.«
    Der flackernde Schein der Fackel beleuchtete gespenstisch Alfons’ starre Züge, die im Tod seltsam klarer und ebenmäßiger wirkten als jemals zu Lebzeiten.

31. Kapitel
    I rgendetwas lag seit Tagesbeginn in der Luft.
    Schon in den frühen Morgenstunden hing eine drückende Schwüle über der Kolonie Waidbach, als drohe ein Gewittersturm, aber schwarze Wolken waren nicht zu sehen, grollender Donner nicht zu hören.
    Schwärme von Stechmücken umschwirrten die schwitzenden Menschen auf den Feldern und an den Gräben, das Summen der Fliegen über den Misthaufen vor den Ställen sirrte in den Ohren.
    Christina arbeitete an dem steinernen Backofen in der Nähe der Mühle am Fluss. Er zählte zum Gemeingut der Kolonie.
    Zusammen mit anderen Frauen knetete und walkte sie seit Stunden Mehl, Wasser, Sauerteig und Salz zu Brotlaiben und wuchtete einen nach dem anderen mit dem Holzschieber in die Gluthitze. Der heiße Ofen trieb den Frauen zusätzlich den Schweiß aus den Poren. Sie hatten die Ärmel bis zu den Schultern aufgekrempelt und fuhren sich alle naselang mit dem Unterarm über die klebrige Stirn.
    Christina blies sich die Locken aus dem Gesicht. Die feinen Partikel des Mehls schwebten in der Luft und legten sich auf die Haut. Der Juckreiz brachte Christina schier um den Verstand, aber sie arbeitete weiter und stapelte die Laibe zum Abkühlen in Holzregale. Der kräftige Duft des Brotes mischte sich mit den Ausdünstungen der Bäckerinnen und dem Geruch des Dungs der Rinder, die Franz Lorenz nicht weit von ihnen entfernt, in

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