Weiße Nächte, weites Land
beigetragen, dass sie zu einem Wrack verkam.
Sie hatte keine Chance gegen Vater. Er war ein Tyrann, Helmine, ein Mann, der keine Gnade gegenüber seiner Frau kannte. Dass sie ihn erstochen hat, war das erste und gleichzeitig letzte Mal, dass sie sich zur Wehr gesetzt hat. Irgendwas muss an dem Tag in der Scheune passiert sein, das Mutter zu diesem Handeln trieb. Möglicherweise hat er sie selbst mit dem Tode bedroht oder sie bis aufs Blut gereizt, so dass sie keine andere Möglichkeit mehr sah, wenn sie selbst überleben wollte. Als ich Mutter fand, war sie es, die rief, wir müssten Meldung beim Dorfschulzen machen.«
Helmine fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Lippen, während sie zuhörte und sich das Geschehen in der Scheune vorzustellen versuchte.
»Ich habe viele Stunden gebraucht, sie davon zu überzeugen, dass wir es wie einen Unfall aussehen lassen.«
»Du warst das? Du hast die Tat vertuscht?« Helmines Stimme kippte zu einem Krächzen.
Bernhard nickte. »Ja, ich hielt dies für gerechter. Natürlich war es nicht richtig, einen Menschen zu töten, aber noch viel falscher wäre es mir erschienen, wenn ein Mensch wie Mutter am Galgen baumelt. Ein Mensch, der sein Leben lang nur gelitten hat und sich am Ende zu einer Verzweiflungstat hinreißen ließ. Es war, als hätte eine unschuldig im Kerker Eingesperrte ihren Wärter überrumpelt und totgeschlagen, um endlich wieder ein Stück von der Sonne sehen zu dürfen. Verstehst du, was ich meine?« Er musterte die Schwester mit gerunzelter Stirn.
Sie rieb sich mit einer Hand die Augen. Wie Bernhard das darstellte, war auf einmal nichts mehr wie zuvor. Vor allem der Umstand, dass die Mutter sich selbst der Obrigkeit stellen wollte, brachte Helmine aus der Balance. So traf Bernhard quasi eine Mitschuld, aber ihren Bruder anzuklagen, das lag fern wie der erste Stern, der nun am dunkelblau verfärbten Himmel blinkte.
Bernhard wandte sich ihr zu, nahm ihre Hände. »Ich verstehe, wie aufgewühlt du bist nach dem, was geschehen ist. Im Grunde verstehe ich sogar, dass du glaubst, du müsstest dich von einer Mutter abwenden, die nie für dich da war, seit du denken kannst. Aber, Helmine, glaub mir, ich kenne Mutter auch anders. Ich bin einige Jahre älter als du, und ich habe erlebt, wie aufopfernd, wie liebevoll, wie warmherzig sie war, bevor Vaters ständige Angriffe und Demütigungen sie innerlich zerfressen und der Schnaps ihr Wesen verändert hat. In meiner Kindheit sehe ich sie als lachende Frau mit rosigen Wangen, die die Arme aufhält, um mich aufzufangen und abzuherzen.« Ein Schmunzeln ging über sein Gesicht. »Ich weiß noch, wie eifersüchtig ich war, als du geboren wurdest. Sie hat dich vergöttert, Helmine. Sie hat dich herausgeputzt wie eine Lieblingspuppe und dich mit stolzgeschwellter Brust herumgezeigt. Sie hat dich fast ununterbrochen auf den Armen getragen, dich gewiegt, dir Lieder vorgesummt und mit dir gescherzt. So stolz war sie, nach einem wilden Kerl wie mir und einem armseligen Geschöpf wie Alfons ein Mädchen zu haben …«
Helmines Augen füllten sich mit Tränen. Sie holte tief Luft, aber da liefen bereits die ersten Tropfen über ihre Wangen … und ihr Bruder wischte sie zart mit der Hand ab. Sie presste die Lippen zusammen, wollte ankämpfen gegen die verdammte Schwäche. »Trotzdem hat sie mich im Stich gelassen. Ich kenne sie nur besoffen, Bernhard. Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich dein liebevolles Gesicht, spüre deine Arme und habe deinen Duft nach dem Leder aus der Flickwerkstatt in der Nase. Wo war Mutter da?«
»Ja, der Schnaps hat alles verändert. Sie hat das Teufelszeug benutzt, um einer Welt zu entfliehen, die sie nicht mehr ertragen konnte. Ich weiß nicht, was Vater alles getrieben, was er ihr an den Kopf geworfen hat, aber irgendwann gab Mutter sich selbst auf und redete sich ein, sie sei auch für uns, ihre Kinder, nicht gut genug …«
Helmine starrte vor sich hin, während sich die Bilder in ihrem Kopf abwechselten. Der Hass auf die Mutter saß tief und umgab wie ein Bollwerk aus Stein ihr Herz, aber in diesen Abendstunden begann die Festung zu bröckeln, und andere Gefühle als Abscheu und tiefste Verachtung regten sich in ihrem Innersten. Mitgefühl vielleicht und ein Hauch von Trauer um die verlorenen Jahre.
Bernhard stand auf und reichte Helmine eine Hand, um sie hochzuziehen. Kurz drückte er sie an sich. »Lass dein Herz nicht verhärten, Schwester. Lerne zu verzeihen! Wir haben hier die
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