Weiße Nächte, weites Land
die aller anderen.
Er merkte sehr wohl, wie sie ihn heimlich beobachtete, und er kannte dieses Mädchengehabe. Sie wartete nur darauf, dass er das Wort an sie richtete, um sich mit ihm necken zu können.
Nun, nach Necken stand Gregor nicht der Sinn, aber er beabsichtigte mitzuspielen, wenn es ihm am Ende mit heißen Küssen und geschmeidigen Händen gelohnt wurde.
Die Sonne stand schon tief am Horizont, tauchte die im trockenen Wind wogende Steppe in ein rotgoldenes Licht, als Gregor beschloss, Helmine einen ersten Besuch abzustatten.
Irgendein Vorwand würde ihm schon einfallen, wenn er sie antraf. Vielleicht würde es ihm noch in dieser Nacht gelingen, sie zu einem lauschigen Spaziergang im Mondenschein zu überreden, um dann … Gregor leckte sich über die Lippen und strich sich das kohlschwarze, lange Haar aus der Stirn. Heiß durchströmte es ihn bei der Vorstellung, wie seine Hand unter Helmines Rock glitt und wie sie erst ganz erschrocken tat, um endlich beseelt zu seufzen, während sich seine Finger …
Er gab seinem Pony die Sporen und trieb es zur Eile. Ein genüsslich vertrödelter Tag sollte einen pikanten Höhepunkt finden.
Als die Hütte in Sicht geriet, in der der Schulze mit seiner Mutter, seinem Bruder und Helmine wohnte, sprang Gregor vom Pony, tätschelte den Hals des Tieres und ließ es zum Grasen stehen.
Er schlenderte auf das Holzhaus zu, pfiff ein Lied, als sei er nur zu einem Abendspaziergang unterwegs. Klopfen würde er gewiss nicht, aber mit etwas Glück und ein paar gegen die Fensterscheibe geworfenen Steinen würde Helmine ihn entdecken und wie zufällig nach draußen laufen, um ihm zu begegnen. Er grinste vor sich hin.
Aus der Hütte drang kein Geräusch, kein Licht. Gut möglich, dass der Vorsteher noch bei den Gräben schuftete. Und die Mutter pflanzte, schnitt und wässerte bis zum Sonnenuntergang auf ihrem Feld die Maulbeerbäume, wie Gregor wusste. Helmine sollte doch irgendwo hier herumpusseln …
Auf Höhe der Scheune bemerkte er, dass die Tür nur angelehnt war. Er schlich näher heran.
Undeutliches Gebrabbel, ein merkwürdiger Singsang … Was mochte das sein?
Er presste sich an die Tür, steckte den Kopf in das Dunkel, sah den schrankbreiten Rücken von Alfons und die Mistgabel, die er hoch über sich schwenkte. Und da! Als der Kretin einen Schritt zur Seite tänzelte, entdeckte er Helmine, die sich duckte und wimmerte.
Gregor dachte nicht lange nach. Er riss die Tür auf, griff sich eine grobgesägte Zaunlatte und schwang sie mit aller Kraft gegen die Schläfe des Riesen. Er traf ihn mit voller Wucht, es knackte wie eine zertretene Haselnuss.
Alfons schrie auf wie ein Tier, ließ die Mistgabel fallen und fasste sich mit beiden Händen an den Schädel, während ihm das Blut aus Nase und Mund quoll. Er taumelte einen winzigen Moment, bevor er wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte, wo er bewusstlos liegen blieb.
Helmine richtete sich totenbleich auf. Noch während Gregor auf Alfons hinabstarrte, fiel sie ihrem Retter um den Hals. Tränen überfluteten ihr Gesicht, ihre Lippen bebten, ihre Knie schlotterten.
Gregor legte die Arme um sie, drückte sie an sich. Er füllte die Brust im rasenden Rhythmus mit Luft und meinte, nie mehr genug Atem zu bekommen. Alle Gedanken, die ihm gerade noch den Heimritt versüßt hatten, waren vergessen. Wie es aussah, hatte er soeben einen kaltblütigen Mord verhindert.
Und möglicherweise war er damit selbst zum Mörder geworden.
Fahrig drückte er Helmine einen Kuss auf den Scheitel. »Alles ist gut, es ist ja überstanden«, murmelte er.
»Ich hatte solche Angst«, brachte Helmine mit dürrer Stimme hervor und schluchzte wieder auf. »Ich dachte, ich muss sterben. Diese Mistgabel …« Sie barg ihr Gesicht an Gregors Brust. Er streichelte ihr mit zittrigen Fingern über den Rücken. Dabei beobachtete er, wie unablässig Blut aus Alfons’ Mund und Nase quoll. Aber er sah auch, dass sich dessen Brustkorb kaum merklich bewegte und die Blutblasen an seinen Lippen flatterten.
Helmines Bruder atmete noch, aber flach.
Einen klaren Gedanken vermochte Gregor nicht zu fassen, aber eines war gewiss: Er musste zusehen, dass er von hier verschwand.
30. Kapitel
S ie ist eine Mörderin, versteh das doch, verflucht noch mal! Wir haben eine Mörderin mitten unter uns!«
»Jetzt beruhige dich, Helmine! Was reimst du dir da bloß zusammen? Du versündigst dich gegen deine eigene Mutter.« Bernhard hatte die Stimme erhoben wie ein
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