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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Eleonoras Hand in ihren Oberarm krallte.
    »Sie sind nur zu fünft«, zischte Christina. »Sie können nicht mehr als die Tiere wollen …« Sie versuchte, Zuversicht in ihre Stimme zu legen, aber in ihrem Innersten war sie nicht überzeugt, dass die Räuber die Frauen und Kinder verschonen würden.
    Und da! Christina schrie auf. Verdammt, wo kam dieses tumbe Frauenzimmer hergelaufen? Mit fliegenden Zöpfen hastete ein junges Mädchen genau vor den Räubern über die Dorfstraße, als wollte sie sich auf der anderen Seite in Sicherheit bringen. »Wie töricht kann man sein«, presste Christina hervor.
    »Das … das ist Helmine«, kam da Klaras Stimme ganz dünn. »Helmine!« Es klang wie das Piepen einer Maus.
    Im nächsten Moment mussten die drei Schwestern mitansehen, wie der vorderste der Kalmücken im Galopp auf seinem Sattel geschmeidig zur Seite rutschte, den Arm ausstreckte und Helmine um die Taille packte.
    Die in den Kampf verwickelten Kolonisten hatten noch gar nicht bemerkt, dass eine der Ihren verschleppt wurde, aber die Weber-Schwestern sahen mit angehaltenem Atem, wie nun eine zweite Frau den Schutz ihrer Holzhütte verließ. Sie rannte auf nackten Füßen, die fusseligen Haare flogen im Wind. Wie ein wütendes Muttertier hetzte sie dem Kalmücken hinterher, der die schreiende Helmine umklammerte.
    »Marliese«, stieß Christina hervor. »Es ist Marliese!«
    »Das schafft sie nicht, das schafft sie nie«, flüsterte Eleonora in die Hand, die sie sich vor den Mund hielt. Ihre Augen wirkten riesengroß in dem von aufgelösten schwarzen Strähnen umrahmten Gesicht.
    Doch eines der frei laufenden Ponys trabte dem Entführer in den Weg, sein Pferd stieg auf und schlug mit den Vorderläufen in die Luft. Diesen Moment nutzte die Mutter, um sich auf Helmine zu stürzen und sich mit allen zehn Fingern an ihr festzukrallen.
    »Gott stehe ihnen bei!«, flüsterte Eleonora.

    Wie eine Eisenklaue lag der in einem Kettenhemd steckende Arm des Mannes über Helmines Brust. Sie atmete in kurzen, schnellen Stößen, schlug mit den Beinen um sich und tobte. Der spitze Schrei, der aus ihrer Kehle drang, klang in ihren eigenen Ohren fremd, die Panik in ihrem Kopf verdichtete sich zu einem schmerzhaften Gleißen. Das Getrappel der Hufe donnerte in ihren Ohren, während sie im Griff des Entführers zappelte.
    In der nächsten Sekunde berührten ihre Füße in den Bastschuhen den Boden, als sich das Pferd des Räubers aufbäumte. Dann spürte sie den schweren, weichen Körper, der sich auf sie warf, und die scharfen Nägel, die sich in ihre Schulter krallten. Sie starrte in das vor wilder Wut verzerrte Gesicht ihrer Mutter, sah die aufgerissenen blassen Augen, rot unterlaufen von geplatzten Äderchen, spürte ihr Gewicht und hörte das Fluchen des Reiters, der die zusätzliche Last abschütteln wollte.
    Aber Marliese ließ nicht locker, schrie wie ein tollwütiges Tier. Helmine merkte, wie die Kraft in dem Eisenarm nachließ. Endlich sackten sie und Marliese schwer in das Steppengras, und fast gleichzeitig erklangen ein dumpfes Klacken, als fiele ein großer Stein auf einen ausgehöhlten Baumstamm, und ein Knacken, das ihr durch Mark und Bein fuhr, während sich das Hufgetrappel entfernte.
    Schwer atmend, ihre Lunge bis zum Platzen mit Luft füllend, lag Helmine im verdorrten Salzkraut, den Körper ihrer Mutter auf sich. Sie fühlte etwas Warmes auf ihr Gesicht tropfen und erkannte, dass es vom Hinterkopf der Mutter kam, die wie ein Mehlsack auf ihr lag, die Arme schlapp herabhängend, den Schädel schwer auf ihrer Schulter.
    Helmine glaubte, der gleißende Nebel hinter ihrer Stirn würde niemals vergehen. Das alles war unfassbar schnell gegangen, und nun lag sie hier mit ihrer Mutter und fragte sich, ob die Gefahr vorbei war oder ob die Dämonen hinter dem nächsten Busch hockten und die Tortur von neuem begann.
    Vorsichtig hob sie die Schultern der Mutter, das Kinn auf die Brust gedrückt. Marlieses Kopf baumelte. Helmine spannte ihre Kraft an, stemmte die Mutter hoch, zwängte sich unter ihr hervor und drehte sie behutsam auf den Rücken. Dann kniete sie sich vor sie, um ihr ins Gesicht zu schauen. Der Hals war in einem merkwürdig schiefen Winkel verrenkt. Helmines bebende Finger tasteten über die Wunde. Die Augen der Mutter waren geschlossen, der Mund wie im Schlaf entspannt.
    Wie konnte sie so friedlich aussehen, nach dem, was sie erlitten hatte! Der hintere Huf des Ponys musste sie getroffen und ihr den Schädel

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