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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Prediger, als er die aufgewühlte Helmine hinter den Erdaushub führte.
    Nur ungern hatte sich Helmine von Gregor getrennt, aber als er davonstürmte, wusste sie, was sie zu tun hatte. Ein letzter Blick auf den blutenden Bruder, dann war sie zum Schutzgraben gerannt, wo sie Bernhard mit dem Spaten antraf.
    Die Wahrheit, die Alfons’ scheinbar sinnloses Gebrabbel offenbart hatte, war zu tiefgreifend. Keine Sekunde länger als nötig wollte Helmine sie für sich behalten.
    Was Alfons da gelallt hatte, klang zwar wirr, aber Helmine reimte sich zusammen, was in seinem Schädel vor sich ging. Hatte er nicht in Hessen gefragt, ob der Vater noch schlafe? Sie erinnerte sich an sein ängstliches Flehen, als wäre es gestern gewesen. Und jetzt hatte er ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf die Mistgabel gelenkt, sondern auch auf die Mutter, die den Vater in Alfons’ Wahnwelt »zum Schlafen gebracht« hatte.
    Es war doch sonnenklar: Die Mutter hatte den Vater mit der Mistgabel erstochen. Und Alfons hatte es beobachtet. Das erklärte, warum sie damals am Todestag so lange gewartet hatten, bis sie ihr Bescheid gaben. Ob Mutter die Spuren des Mordens allein beseitigt hatte? Oder hatte Bernhard ihr geholfen?
    Nach der eben noch durchlittenen Todesangst und der urplötzlichen Erleichterung, dass ausgerechnet der hübscheste der jungen Waidbacher sich zu ihrem Retter aufschwang, kreisten ihre Gedanken wie ein Karussell, und Leuchtpunkte flimmerten hinter ihrer Stirn.
    Sie musste Bernhard mit der Wahrheit konfrontierten. Ihm blieb gar nichts übrig, als die Mutter aus der Kolonie zu verbannen.
    Vielleicht verreckte inzwischen Alfons in der Scheune – hatte er es nach dem brutalen Angriff auf sie anders verdient?
    Mit doppeltem Glück wurde noch am selben Abend die Mutter in die Steppe geschickt. Obwohl es keine offizielle Obrigkeit gab in dem Dorf – wer mochte es verantworten, eine Mörderin unter ihnen zu wissen? Dagegen konnte sich selbst ein tugendhafter Mensch wie Bernhard nicht sträuben. Hier musste er die gottverdammte Vernunft walten lassen – zum Wohle der Gemeinschaft.
    Helmine packte ihren Bruder an beiden Armen, grub ihre Finger in seine sehnigen Unterarme, die braungebrannt und erdverkrustet aus den Ärmeln des Kaftans hervorschauten. »Leugne nicht länger die Wahrheit, Bernhard! Ich sehe dir an, dass du es weißt. Du warst noch nie ein guter Lügner. Du weißt, dass Mutter Vaters Mörderin ist, nicht wahr?« Sie sah zu ihm auf, schnaufte durch die Nase, presste die Lippen zu einem schmalen Strich aufeinander.
    Bernhard löste die Finger seiner Schwester und fasste sich mit einer Hand an die Nase, als müsste er sich sammeln.
    Helmine ließ nicht locker. »Er wollte mich umbringen, Bernhard! So wie Mutter Vater mit der Mistgabel erstochen hat. Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was passiert ist«, zischte sie. Ja, sie hatte die Wahrheit herausgefunden, und sie würde dafür sorgen, dass die Konsequenzen gezogen wurden.
    Mit einem Ruck wandte sich Bernhard ihr zu. Aus seinen Augen war die Unsicherheit verflogen. Hart wie Stein erschien ihr sein Blick. Um seine Lippen lag ein energischer Zug, der ihn ihr wie ein Fremder erscheinen ließ. Er presste seine Pranke auf ihren Rücken und schob sie zu einer Erhebung im Steppengras. »Setz dich, Helmine, und hör mir zu …«
    »Aber ich …«
    »Hör mir zu!«, fuhr er sie an.
    Helmine gehorchte und schwieg, ließ sich auf den Erdhügel plumpsen, dicht neben den Bruder.
    Bernhard legte auf seinen Oberschenkeln die Fingerspitzen aneinander, während sein Kiefer mahlte. Helmine spürte seine Anspannung wie ein dräuendes Gewitter und hätte ihn am liebsten geschüttelt, damit er endlich mit der Sprache herausrückte.
    »Als Mutter die Mistgabel gegen Vater erhob …«
    Helmine stöhnte auf und sackte in sich zusammen. Da hatte sie tatsächlich die richtigen Schlüsse aus Alfons’ Gebrabbel gezogen! Das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, konnte sie nicht verbergen.
    Bernhard hob eine Hand. »Lass es mich erklären!« Er winkte den Männern, die ihm Zeichen gaben, dass sie die Arbeit für diesen Tag beendeten. Die Sonne stand als glühender Ball am Horizont und färbte den Himmel und die Wolkenschlieren blutrot, bevor die Nacht hereinbrechen würde.
    »Mutter war zu dem Zeitpunkt selbst tot. Innerlich gebrochen. Eine wandelnde Tote – mehr nicht. Die alleinige Schuld daran trug Vater. Über viele Jahre hat er sie gedemütigt, geschlagen und mit jedem Wort dazu

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