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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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gespalten haben.
    Wieder spürte Helmine feuchte Wärme in ihrem Gesicht, aber diesmal war es kein Blut.
    Sie selbst hatte nicht einmal einen Kratzer davongetragen. Sie ließ die Tränen laufen, ohne einen Ton von sich zu geben. Sie bettete die Wange auf die Brust der Mutter, fühlte den Wollstoff an der Haut und roch den vertrauten Schweiß.
    Nichts als Schmerz erfüllte sie, kein Gedanke ließ sich fassen, nur der völlig banale, dass sie zum ersten Mal seit vielen Jahren ihr eigenes Herz wieder pochen hörte. Kräftig schlug es in ihrer Brust und durchpulste ihren Körper mit Wärme.
    Dass die anderen Kolonisten herangelaufen waren und einen Kreis um sie bildeten, erkannte Helmine erst, als sie, die Arme um den Hals der Mutter geschlungen, die Augen öffnete. Sie veränderte ihre Haltung nicht, nahm das Gemurmel der anderen wahr, ohne ein Wort zu verstehen, bis sie sich wieder entfernten.
    Nur Bernhard blieb, hockte sich neben sie, strich über ihre Haare.
    »Es ist vorbei, Helmine«, flüsterte er sanft.
    Sie meinte zu nicken. Ja, es ist vorbei.
    Das Schicksal hatte ihr die Entscheidung abgenommen, ob sie einen Neuanfang mit der Mutter wagen wollte oder nicht. Ob sie sie als Mörderin brandmarken und verbannen wollte – oder ob sie, wenn auch nicht vergeben und verzeihen, so doch irgendwann vergessen konnte.
    Die letzte Tat der Mutter war, sie, die ihr mit nichts als Hass und Verachtung begegnet war, vor dem sicheren Untergang zu retten. Dafür hatte Marliese ihr eigenes Leben gegeben.
    »Sie hat nie aufgehört, dich zu lieben«, sagte Bernhard in der Schwärze der Nacht, die sie nun umgab, seine Hand tröstend auf ihrer Schulter.
    »Ich weiß«, flüsterte Helmine. »Ich weiß.«

32. Kapitel
    Vier Jahre später, Kolonie Waidbach, Frühjahr 1772
    M ein liebes Kind, wie stellst du dir das vor? Wo kämen wir hin, wenn jeder, dem das Blut kocht, die Ehe mit den Füßen tritt, um sich auf neuen Wegen zu verlustieren?« Pastor Laurentius Ruppelin zog die Brauen zusammen, so dass sie einen Balken über seinen hellgrauen Augen bildeten, als er sich über seinen Schreibtisch lehnte und Christina fixierte.
    Christina sank auf dem Besucherstuhl zusammen, während die Bassstimme des Geistlichen über sie hinwegtönte.
    Was hatte sie anderes von einem Pfaffen erwartet? Hatte sie tatsächlich geglaubt, auf Verständnis zu stoßen, dafür, dass sie nach Jahren der Missachtung neben einem ungeliebten Mann endlich einen Schlussstrich ziehen wollte, um neues Glück zu suchen?
    Laurentius Ruppelin war vor drei Jahren durch Bernhards Vermittlung in die Kolonie Waidbach gezogen. Noch im selben Jahr hatten die Wolgadeutschen ein Gotteshaus errichtet, das ihr ganzer Stolz war und dessen Anblick sie mit tiefer Zufriedenheit erfüllte. Weißgetüncht erhob sich das Prachtstück inmitten der Kolonie, umgeben von einem gepflasterten Platz, auf dem sich ein Großteil des öffentlichen Lebens abspielte. Wohlklingend hallte der tief schwingende Ton der Glocke, die in einem Häuschen neben der Kirche hing, über die Steppenlandschaft, wenn der Pastor sonntags und an den Feiertagen zum Gottesdienst rief. Auch zum Alarm wurde sie geschlagen, aber weitere Angriffe von Nomaden konnte sie nicht verhindern.
    In den ersten Jahren drohte die Gefahr von den hageren Kalmücken, später waren es die fettleibigen Kirgisen, die durch ihr Dorf galoppierten, raubten, was nicht niet- und nagelfest war, und zerstörten, was sich die Leute mühevoll aufgebaut hatten.
    Auch wenn die Angriffe ausblieben, warfen Missernten und Viehseuchen die Kolonisten zurück und ließen sie an ihrem Streben und Placken zweifeln. Immer und immer wieder erlebten sie Rückschläge, mussten mit ansehen, wie ihre Häuser abgefackelt, das Nutzvieh gestohlen und die Felder niedergetrampelt wurden. Fassungslos standen sie vor den dürren Ähren auf den Feldern, wenn alles Wässern nichts genutzt hatte, vor leer gefressenen Scheunen, wenn sich Nagetiere an ihren Vorräten gütlich getan hatten, oder vor den Rindern, als die Seuche sie Schaum spucken ließ und ihre Glieder im Todeskampf zuckten und strampelten.
    Kein Jahr war seit ihrer Ankunft vergangen, ohne dass es eine Katastrophe gegeben hätte, und dass sie nun in der Kirche Gott um Hilfe bitten konnten, hielt Christina für eine Posse.
    Gott hatte zugelassen, dass sie ihre Heimat für dieses trostlose, entbehrungsreiche Leben am Ende der Welt aufgegeben hatten. Warum sollte er sich plötzlich darum scheren, wie es ihnen hier

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